... fällt mir doch glatt die PEGIDA-Fahne aus der Hand. Jedesmal. Spaß beiseite. Hier meine Deutung der Situation, Fokus Osten (sage ich als Dresdner):
Im Prolog möchte ich anerkennen, dass sich Leute mit organisierter Rechtsradikalität auf akademischer Ebene auseinandersetzen, und dass das auch gut ist. Wenn es aber um die Deutung und Interpretation von vermeintlichen Lebenswirklichkeiten im Kleinen geht - Stichwort "Warum laufen so viele da mit?", bitte lasst die Akteure reden. Ferner: Ja, es gibt auch viele Idioten hier; aber die wenigsten sind radikal und/ oder gewalttätig, aber viele vergreifen sich in der Rhetorik. Und ja, absolut und weltweit betrachtet, mag es Jammern auf hohem Niveau sein. Aber sieht man sich unsere andauernde Debatte im Land und die konkreten Auswüchse nebst Gewalt an, sollte man das Thema verdammt ernst nehmen. Es ist aber eigentlich auch ein positives Zeichen, wenn trotz Möglichkeit zur Resignation - was viele vermutlich auch tun - ein bestehender Optimierungsdruck auf die Politik wirkt. Das allein kann schon progressive Kräfte erzeugen. Aber ja, und nochmal: Gewalt ist scheiße!
Und bevor der Vorwurf kommt ich relativere hier die DDR: Ich gebe meine Erinnerungen und Wahrnehmungen wieder. Mehr nicht.
Mein Bruder und ich, wir hatten eine fantastische Kindheit/ Jugend. Sichere Verhältnisse, feste Familienbande, alle wenige Gehminuten voneinander entfernt. Die Eltern, natürlich beide erwerbstätig, waren jeden Tag pünktlich daheim. Kinderversorgung tagsüber und damit Kinderbekommen im Allgemeinen, kein Problem. Am Wochenende Ausflüge, einmal im Jahr, Urlaub, Ferienlager oder beim Cousin auf den Bauernhof. Warenknappheit und Reisefreiheit war für uns Kinder kein Thema, was man nicht kennt vermisst man nicht. Zu Essen gab es für alle reichlich! Bei den Eltern und Verwandten war Großpolitik selten Thema, man schielte natürlich etwas gen Westen und machte seine Scherze über das Regime hierzulande, Honi, Gorbi, und den Russen. Das Grundvertrauen und die Hilfsbereitschaft innerhalb etablierter Gemeinschaften (wie Hausgemeinschaft, "Patenbrigaden", Sportverein ...) war trotz Stasi-Situation enorm. Kurzum: sorgenfreies Leben, mit ein wenig Neid gen "Westen". Das "Leben im Kleinen", in der eigenen Welt schien für die Meisten sehr gut zu sein.
Und natürlich gab es einige, die das Große sahen und greifen wollten, dafür kämpften und den Stein ins Rollen brachten. Wende. Unglaublich, die Begeisterung. Aufbruch! Das materiell so reiche Leben, plötzlich zum Greifen nahe! Allen kann es jetzt noch besser gehen. Mein Ersteindruck Westberlin: Ich hatte noch nie so bunte Läden gesehen. Und war baff, ob der riesigen Auswahl. Und die Politik spielte mit: Kohl mit seinen "blühenden Landschaften" schraubte die Erwartungshaltung kräftig hoch. Schließlich: "Alles was aus dem Westen kommt ist gut, nein besser!" war der empfundene Konsens zur Wendezeit.
Die große Enttäuschung kam aber schnell, und in mehreren Gewändern:
(1) Systembedingt konnte man uns "Ossis", ich meine oft zu Recht, Naivität unterstellen. Das Problem dabei nur : Man hat uns das oft spüren lassen. Bevormundung a la "Das versteht Ihr nicht", usw. Das Bild des "arroganten Wessis" kommt nicht von ungefähr. Und die Unerfahrenheit in Sachen Kapitalismus wurde gut ausgenutzt. Heerscharen von Teppichverkäufern, Abo-Drückerbanden, Staubsaugervertretern, Gewinnspielbetrügern, die wir anfangs auch alle gerne, so wie wir es gewohnt waren, in die gute Stube hereingebeten hatten. So langsam kam das Erwachen, dass da plötzlich auch viele Schurken dabei sind.
(2) Plötzlich bekommt man überall erzählt in was für einem Schweinesystem man doch gelebt hat. Richtig. Da sind extrem schlimme Sachen passiert. Für Menschen, die mit dem System aber keine Berührung hatten, war der Bezug zur eigenen kleinen heilen Welt nicht da. Dennoch galt plötzlich: DDR + Sozialismus: so eine Scheiße! Für die, die sich arrangiert hatten, denen es gut ging, und natürlich für die Indoktrinierten zerbrach plötzlich ein relevanter Teil des Selbstverständnisses. Das System in dem Du aufwächst bringt nun mal auch konstituierende Bausteine Deines Selbst mit. Ich glaube aber auch, dass man das nicht beschreiben, sondern erleben muss, um es zu verstehen.
(3) Stichwort "heile Welt" und viel relevanter: Die Treuhand (heute würde man Heuschrecken sagen) kommt, und der Ausverkauf der DDR beginnt. Auch intakte Betriebe mit guten Produkten werden nach Subventionsabgriff abgewickelt. Ich kenne niemanden, der in den 90ern im Osten nicht entweder die eigene Entlassung oder die eines Familienangehörigen zu verarbeiten hatte. Bei uns traf es auch beide Elternteile. Wie kann man damit umgehen, wenn man Arbeitslosigkeit nicht kennt? Um es auf den Punkt zu bringen: Neben Deiner Vergangenheit, zerbricht plötzlich auch die Gegenwart, und Angst ob der eigenen Zukunft hält ein.
Dennoch: So eine Situation war Mitte der 90er aber noch kein wirklich existentielles Problem, und ein "Wiederaufstieg" oftmals möglich. Aus mehreren Gründen: Arbeitslosengeld - das Original - auf Basis vernünftiger Löhne hielt die Familie über Wasser. Und das in Kombination mit den günstigen Genossenschaftswohnungen stellte zumindest Wohnen, Essen und Trinken auf eine ähnliche Qualitätsstufe wie zu Zeiten mit Arbeit.
Das sollte sich ändern. Nach der Kohl-Enttäuschung setzten ausgerechnet die Genossen mit den verharzten Gesetzen noch eines drauf. Und der Hammer, Frau Merkel - "eine von uns" verteilt mit Ihrer nicht mehr einsortierbaren (rechts-grünen-linken) Europapolitik den Todesstoß in Sachen Politikvertrauen. Dazu weiter der anhaltende Ausverkauf des Tafelsilbers in den Ost-Kommunen (z.B. Genossenschaftswohnungen) an Spekulanten mit entsprechender "Wertsteigerung" der Mietverträge.
Ich könnte jetzt noch über die (negativen) Auswirkungen auf das Gemeinschaftsgefüge schwadronieren, aber ich komme mal lieber zum Punkt warum "Rechts" im Osten gut funktioniert und z.B. in Dresden soviel "Pack" mobilisiert.
1) Viele die da mitlaufen gehorchen meiner Meinung nach dem schematischen Lebenslauf wie oben beschrieben. Große Hoffnung - große Enttäuschung in mehreren Iterationen, und das immer unter der Erinnerung an die eigentlich in Takt gewesene "kleine Welt" von früher.
2) Diese Menschen kennen den Zusammenhalt und die Kraft einer Gemeinschaft nur zu gut. Man hat erfolgreich durch blankes Demonstrieren ein Regime gestürzt! Das hat empirisch also schon mal geklappt. Warum nicht ein weiteres mal!?
3) Ja, es gibt einen geringen Ausländeranteil im Osten. Persönliche Erinnerung: 0% zu Ost-Zeiten, ab und zu ein Vietnamese im Kombinatsaustausch. Den ersten Schwarzen habe ich in Farbe (sorry) '90 in Berlin gesehen. Was man nicht kennt, kann man nicht beurteilen, da ist was dran.
Es mag noch einen ost-spezifischen Stereotypen, bzw. eine _Neigung_ geben, (meine Erfahrung/ Meinung): Wir sagen gerne direkt was Phase ist, und wenn uns was gegen den Strich geht. Ja, teils unreflektiert und weniger diplomatisch, aber Dinge die nicht passen, werden benannt und zum Thema gemacht, und auch offen ausgesprochen. Ein "Um den heißen Brei herum reden" gibt es auch, aber scheinbar nicht so ausgeprägt wie anderenorts.
Und dann gibt es noch ein paar Grundthemen:
4) Die Wiedervereinigung ist nicht abgeschlossen. Wenn ich sehe wie meine Eltern im Vergleich zur gleichen Berufsgruppe im Westen bezahlt werden - heute nach 27 Jahren! Und dass bei Beamten und Rentnern der Unterschied gesetzlich geregelt ist, und erst in ein paar Jahren vom Tisch soll. (Habe Wehrdienst in den 90ern in Berlin gemacht: West 100%, Ost 86% Sold. schwer vermittelbar, damals ggf schon weil die Lebenshaltung in der Tat unterschiedliche Preise hatte)
5) "Lügenpresse": Wenn Du in einer offensichtlichen Filterblase aufwächst (DDR), aber vergleichen kannst (BRD-Medien), dann entwickelst Du mindestens ein Gespür für einseitige, ggf verdrehte Widerspiegelung der Tatsachen in den Medien. Dass wir diese Situation mittlerweile haben, zwar schwächer ausgeprägt als beim DDR-Staatsfunk, das merken auch viele andere Mitmenschen zur Zeit. Die Schönrederei ist zu offensichtlich, und teils auf Meta-Ebene aufgearbeitet:
>>> http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/studie-wie-ueber-fluechtlinge-berichtet-wurde-14378135.html
6) Nicht nur die "gefühlte" sondern auch die wahrhaftige (materielle und soziale) Realität ist im Vergleich mit "früher" bei einigen schlechter geworden. Da kann man mit Statistiken und abstrakten Metriken wedeln wie man will ("Deutschland geht es gut"), im konkreten Lebenslauf spielt die eigene Realität die Rolle! Das Thema Ungerechtigkeit wird in Form von Wortneubildungen der Politik ja mittlerweile auch - wieder - anerkannt, Stichwort "Wachstumsverlierer". Und...
7) Langsam haben die Menschen begriffen, dass nicht alles toll warm was über die Mauer gekommen ist (gilt für beide Richtungen). Und der falschen Versprechungen und inkonsistenten Wendehalsmanier sind die Menschen überdrüssig. Wenn das, was man sagt, und das was man tut, bzw. die Folgen davon, diametral sind, checkt das Oma Knuffke auch irgendwann. Darüber hinaus ...
8) Es gibt kein gemäßigtes, rechtes (echtes konservatives) Angebot mehr. Spätestens Frau Merkel hat zu einer Verschmelzung aller etablierten Parteien gesorgt. Dass da rechts außen nun Platz ist, der von der AfD eingenommen wird, ist das wirklich so schockierend und überraschend? Die AfD ist inhaltlich der feuchte Traum der (Alt-)CSU, und die ist entsprechend stark in Bayern vertreten, nur reden die eben "um den heißen Brei" und passen tunlichst in Sachen Rhetorik auf. Hinzu kommt...
9) "Rechts" - egal in welcher Ausprägung - ist nicht mehr "alltagstauglich", es ist politisch motiviert nicht mehr tolerierbar, bzw. es ist "trendy" dagegen zu sein. Dass man bestimmte Wertvorstellungen aber nicht einfach ausblenden kann, und wenn man die Leute obendrein sofort als "besorgte Bürger" oder "Nazis" beschimpft, macht das den Graben und den Frust der Leute doch nur noch groesser.
Zuhören, nachfragen, diskutieren. Bitte! In beide Richtungen.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (06.02.2017 22:43).