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mehr als 1000 Beiträge seit 10.01.2003

Menschwürdiges Sterben vs Siechtum ohne Perspektive

Hätte für mich besser gepasst - aber ich schreib' ja nicht für den Heise-Verlag.

Wie's in den Niederlanden läuft, weiß ich nicht. Ich kenn dafür die deutsche Variante, auch direkt im unmittelbaren Umfeld, dass ab einem gewissen Zeitpunkt einem Menschen nicht mehr erfolgreich geholfen werden kann, aber gleichermaßen ihm das Recht verweigert wird, würdevoll von uns zu scheiden.

In meinem Falle geht es um eine Großtante. Die hat ihr Leben lang mit ihrer Schwester gelebt, beide blieben ledig und kinderlos. Die letzten paar Jahre ging es in ein Seniorenheim und dort zerstritten sich die beiden heillos. Und die eine, um die es hier geht, verweigerte auf einmal die Nahrungsaufnahme. Sie wurde an eine Magensonde angeschlossen. Als dann die Organe begannen zu versagen, wurde sie auch noch an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen. Bis sie dann endlich sterben durfte, verging noch geraume Zeit. Das war in den 90ern, als die Gesundheitsversorgung sich größtenteils in öffentlicher Hand befand, Seniorenresidenzen aber zunehmend privat betrieben worden sind. Die Erfahrungen meiner Großtante haben meine Großmutter beeinflusst (aber dafür ist hier kein Platz). Kurze Version? Allein die Möglichkeit, im Seniorenheim enden zu müssen, trieb meine Großmutter in den versuchten Suizid. Der gelang zwar nicht, dafür brach sie sich Knochen und die Ausheilung verbrauchte so viel Kraft, dass sie letztlich friedlich einschlafen konnte - aber entgegen ihrem Wunsch nicht zu Hause, sondern in einem Krankenzimmer fern der Angehörigen und ihres Mannes.

Nun kann ich mir sehr gut vorstellen, dass die obige Geschichte kein Einzelfall ist.

Wenn eine Person im Seniorenheim aufhört zu atmen und die Person ist überwacht, schafft es meist der Notarzt (so einer im Haus ist) noch, Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten. Nun ist nicht immer erkennbar ob ein Mensch an "Altersschwäche" verstirbt oder an einem medizinischen Notfall. Aber in beiden Fällen wird einem sehr alten und möglicherweise ohnehin sterbenskranken Menschen ein würdevolles Sterben vorenthalten, wenn er noch mehrfach wieder zurückgeholt wird, bevor der Körper entgültig aufgibt. Dabei gilt die seltsame Logik offenbar: "ist die Wiederbelebung erfolgreich durchgeführt, war der Sterbezeitpunkt noch gar nicht erreicht."

Ein gänzlich anderer Faktor dürfte aber wohl eher eine Frage des "Patientenumsatzes" sein. Ein toter Pflegeheiminsasse verursacht Papierkrieg und Kosten. Ein lebender Insasse kann weiterhin seine Beiträge zahlen. Aus Sicht des Pflegeheimbetreibers ist es also attraktiver, möglichst alles zu tun, damit keiner verstirbt (auch wenn das natürlich nicht möglich ist) oder möglichst lange als Bewohner erhalten bleibt. Und damit erklärt sich möglicherweise eben auch, warum auch der zwölfte Wiederbelebungsversuch als Erfolg gefeiert wird, wenn der 98-Jährige zurückgeholt werden kann.

Menschenwürdiges Sterben bs. Siechtum ohne Perspektive - das steht drüber. Das steht drunter. Ich frage mich, was nötig ist, um wieder zu einem menschlichen Sterben zu finden, OHNE in die Falle "Entsorgung der Alten" zu tappsen. Denn ein festes Sterbealter gibt es nicht: in meinem Haus wohnt eine mopsfidele 85-Jährige, die ist, abgesehen von ihrem Rückenleiden, recht fit und sehr aktiv. Ihre Nachbarin ist 15 Jahre jünger, die ist aber so vom Leben gezeichnet und so von ihrer Gesundheit gezeichnet, dass man ihr anmerkt, sobald der Herbst kommt, will sie nicht mehr.
Da gibt's 80-Jährige, die gehen in die Berge, laufen 20km-Touren und 60-Jährige, die können vor "Rücken" kaum noch ihren Sessel verlassen. Es gibt 90-Jährige, die bei der Herzsportgruppe Jüngeren davonschwimmen und aktive 100er, die scheinbar ihr Alter ignorieren können und weitermachen, bis ... genau. Bis Gevatter Tod anklopft und sie dann doch einsammelt. Und andere fallen mit Erreichen des Rentenalters in ein Loch aus Nutzlosigkeit und Ideenlosigkeit, die altern in 5 Jahren um 25 und wissen nix mehr mit sich und ihrer Umwelt anzufangen.

Also. Wo legt man fest, wann jemand "reif" ist? Also wann ist "menschenwürdiges Sterben" eben keine "Entsorgung" mehr? Und woran erkennt man, dass jemand nur noch dem Siechtum anheimgefallen ist ohne Perspektive auf Heilung? Wenn wir das rausbekommen, haben wir ein Stückweit zurück in die Zivilisation gefunden.

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