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  • Karl-Katja Krach

528 Beiträge seit 09.07.2019

Bürgerliche Politik folgt dem Kapital, nicht andersherum

Ich denke, Gilbert Kolonko macht es sich etwas einfach, wenn er "den Westen" pauschal verantwortlich macht. Immerhin kommt die Demokratie, die er verteidigt, aus "dem Westen".

Genauer wäre es, die Analyse auf die Tatsache zu lenken, dass es sich um eine bürgerliche, d.h. kapitalistische Demokratie handelt. Solange das so ist, folgt das Staatshandeln dem Kapital, d.h. dem Vorteil in der Konkurrenz zwischen den "Wirtschaftsstandorten".

Kapitalismus ist zwar im Westen als liberaler Kapitalismus entstanden, aber mittlerweile herrschen in fast allen Ländern der Welt Kapitalismen. Das macht das Bürgertum im (kulturell) weißen Westen nervös, denn wider gegenteiliger Beschwörungen von Win-Win-Situationen weiss das Bürgertum genau, dass Kapitalismus Wohlstand immer nur für einige bringt und dass es im Wettbewerb gesetzt ist, dass es Verlierer gibt.

Die Beispiele im Artikel sind auf unterschiedliche Art und Weise Effekt der kapitalistischen Produktionsweise. In Pakistan ging es schon immer um die Durchsetzung imperialistischer Marktmacht in der Region und im Kalten Krieg auch um den Klassenkrieg von Oben. Das kann man "dem Westen" zuschreiben.

Beim Beispiel China ist es aber andersherum: Dort ist die Handelspolitik nicht ein Ausdruck der Macht des Westens, sondern der Ohnmacht. Der chinesische Staatskapitalismus ist in der Ausbeutung der Arbeitskraft einfach effektiver als der liberale Kapitalismus in Indien oder Bangladesch. Denn in China kann der Staat durch seine Unternehmensbeteiligung viel genauer unterscheiden, welche Kosten und Risiken privatisiert werden und welche sozialisiert.

In den liberalen Kapitalismen kann der Staat Risiken nur dadurch sozialisieren, dass er im Voraus pauschal die Zentralbankkredite verbilligt, die Mindestlöhne und die Sozialabgeben senkt oder gering hält, sowie Arbeiterrechte abbaut oder verhindert, und im Nachhinein Banken und Unternehmen vor der Pleite bewahrt. Über die Kreditvergaben entscheiden weitestgehend kapitalistische Banken, die der Logik des Profites folgen und nicht der nationalökonomischen Logik des Standortes oder gar der nachhaltigen sozio-ökologischen Entwicklung. D.h. soziale und ökologische Ausgaben müssen zu steigenden Profiten führen.
Die "erfolgreiche" Ausbeutung der Arbeitskraft kann nur durch Senkung der Kostenfaktoren erreicht werden, das sind hauptsächlich Löhne, Sozialabgaben, und Kreditzinsen und daneben Bürokratie und Korruption.

Im chinesischen Staatskapitalismus können jedoch Kosten und Risiken ganz gezielt sozialisiert werden, indem ganz bestimmte Unternehmen und Vorhaben vorrangig mit Krediten bedient werden. Dazu noch kann Konkurrenz gezielt unterbunden werden und dadurch kann der Aufbau unnötiger redundanter Strukturen eingeschränkt werden. Während in den liberalen Demokratien Unternehmen illegale Kartelle bilden müssen, um durch gemeinsame Zulieferstrukturen und Forschungsprojekte Kosten einzusparen, kann das der chinesische Staat ganz gezielt veranlassen.

Da die westlichen Staaten nicht nur untereinander, sondern auch mit dem Rest der kapitalistischen Welt in Konkurrenz stehen, können sie auf die billigen Güter und die Hochtechnologie mit konkurrenzlosen Preisen nicht verzichten, die der chinesische Staatskapitalismus anzubieten hat. Nicht nur, "damit auch die "Abgehängten" in Deutschland Schoppen gehen können - in 99 Cent-Läden". Sondern vor allem, um in der kapitalistischen Konkurrenz zwischen den Volkswirtschaften nicht irgendwann zu den Verlierern zu gehören.

Im Kalten Krieg war die Bürgerlichkeit im Westen noch von der Angst vor dem Kommunismus erfüllt. Diese Angst hat sich in beherrschbare Furcht verwandelt, denn das kommunistische Gespenst scheint ihr zumindest derzeitig mit dem Opfer von Brot und Spielen und mit dem rituellen Hufeisenschmieden exorzierbar zu sein.
Doch seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus der Länder des Warschauer Paktes ist diese ideologische Sicherheit und die selbstverständliche Verortung an der Spitze der kapitalistischen Welt nach und nach zusammengefallen wie ein Hefeteig, der nicht mehr im Warmen steht.

Nun ist es die Angst vor dem Kapitalismus selbst, die das Bürgertum erfasst hat. Was die Angst vor dem individuellen Abstieg angeht - diese ließe sich mit einer konsequenten sozialdemokratischen Politik noch zur beherrschbaren Furcht machen. Aber im globalen kapitalistischen Wettbewerb scheint ein großer Niedriglohnsektor etwas zu sein, auf das man "stolz" sein kann, wie Gerhard Schröder es ausdrückte.

Im Kalten Krieg war die Angst vor dem Kommunismus noch größer als die Angst vor dem Kapitalismus und das hat (mit einer gewissen Paradoxie) dazu beigetragen, die liberal-kapitalistischen Demokratien zu stabilisieren und das Leben der Arbeiterklasse im Westen zu verbessern. Seitdem das kommunistische Gespenst den größten Teil seiner Schreckhaftigkeit verloren hat, bricht jedoch die Selbstsicherheit des Bürgertums in den westlichen Demokratien in Schüben ein.

Obwohl man mit China nicht will, ist man in der Konkurrenz gezwungen, chinesische Waren zu kaufen. Diese Abhängigkeit zeigt, dass das westliche Bürgertum seine globale Sonderstellung immer weiter verliert - diese wird zunehmend durch die Konkurrenz zwischen den Staaten nivelliert. Welches kapitalistische Land der Welt würde überhaupt ohne chinesische Waren auskommen?

Der (Post-)Stalinismus im Staatssozialismus des Warschauer Paktes hatte seinen Feindes, den Nazifaschismus besiegt und damit "eigentlich" seine Rechtfertigung verloren. Die Angst jedoch, dass der Kommunismus tatsächlich kommt und die Arbeiter und Arbeiterinnen die Macht übernehmen, führte dazu, dass auf die Provokationen des Westens eingegangen wurde. Diese waren willkommene Rechtfertigung zum Erhalt der Macht eines kleinen Führungskreises. Dadurch erst konnte die Strategie, die UdSSR durch das Wettrüsten in den Ruin zu treiben, funktionieren.

Insofern ist die Entwicklung im Westen nichts Neues. Seitdem die NATO nach dem Fall der Mauer "eigentlich" ihre Rechtfertigung verloren hat, mussten neue Rechtfertigungen her. Nun ist es nicht mehr die Angst vor dem Kommunismus, sondern die eigene Ideologie treibt die bürgerliche Gesellschaft in der Form mehrerer Gespenster umher: Abstieg in die Bedeutungslosigkeit, Migration, Failed States - und dann noch der relativ neuartige chinesische Staatskapitalismus, der beweist, dass Kapitalismus nicht, wie lange unterstellt, automatisch zu bürgerlichen Freiheiten führt und die kapitalistische Produktionsweise mit einem autoritären Regime vielleicht sogar besser verträglich ist, als mit einem liberal-demokratischen. Also was, wenn der Kapitalismus zu einem selbst kommt, mit allen seinen Abgründen?

Insofern ist die Diskrepanz zwischen der Handelsbilanz Deutschlands mit Indien und mit China viel eher ein Effekt des Kapitalismus, als ein Effekt irgendeiner spezifisch westlichen Machtpolitik. Es ist viel eher noch eine Ohnmachtspolitik von Regimen, für die die eigene Ideologie unhinterfragbar ist - denn schließlich sei, dass "weiss" die bürgerliche Gesellschaft ganz genau, Pragmatismus überhaupt keine Ideologie, sondern nur alles andere.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (15.03.2021 01:59).

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