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  • bismi

mehr als 1000 Beiträge seit 02.01.2010

Meine Erfahrungen als Ossi zwischen den Zeiten und den Welten

"Die Deutsche Einheit ist ein großes Geschenk an uns alle"

Die Deutsche Einheit kam mir zu schnell und zu würdelos. Deshalb stimmte ich gegen den Beitritt. Aber ich wollte die Einheit schon – nach ein bis zwei Generationen. Heute sehe ich das anders. Umso mehr separate Staaten und politischer und wirtschaftlicher Wettbewerb, umso besser. Keine Abstimmung ist demokratischer als die mit den Füßen. Österreicher und ganz besonders Schweizer leben ja auch glücklich.

Etwa 80 Prozent der Ostdeutschen verloren infolge [...] ihren Job. [...] infolge der flächendeckenden Abwicklungen im produzierenden Gewerbe [...]. Die Abwanderung von mehr als 1,2 Millionen Menschen

Das haben wir der unsinnigen 1:1-Währungsumstellung zu verdanken. Damit hat Helmut Kohl seine Wiederwahl bezahlt und sich in den Geschichtsbüchern verewigt. Das Denkmal für Helmut Kohl muss gestürzt werden. Hier hätte man auf Oskar Lafontaine hören sollen. Die Westvertreter in den Tarifparteien des Ostens machten dann das verarbeitende Gewerbe vollends kaputt [1]. Aber das waren ein paar und nicht alle Westdeutschen.

Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, nimmt im Osten ab

Ich leb(t)e schon lange Zeit im Westen, habe mich aber nie als Bürger zweiter Klasse gefühlt. Manchmal hatte ich Probleme mit der Arbeitskultur. Aber ich denke, das liegt nicht am Westen sondern am Unternehmen. Es gibt eben hippe/woke sowie konservative Unternehmen.

Einen gewissen Wohlstand konnten sich die Ostdeutschen seit der "Einheit" erarbeiten

Ich denke, der Osten hat heute immer noch keinen selbsttragenden Aufschwung [2]. Die Gründe wurden bereits oben genannt.
In jedem Land gibt es regionale Wohlstandsunterschiede. Und mit einer liberalen Wirtschaft ohne staatliche Interventionen würde es heute nach den Marktgesetzen wahrscheinlich weniger Wohlstandsunterschiede geben – und zwar ohne Transfers.

gleicher Lohn für gleiche Arbeit

Diese sozialistischen Parolen, die auch die DDR zu Fall brachten, sind heute wieder in Mode – in West und Ost. Die Chinesen hatten diese Forderung nicht und gerade deshalb haben sie den Weg an die Weltspitze geschafft.

Zum Unmut der Ostdeutschen trägt außerdem bei, dass sie in der Bundesrepublik nicht auf Chancengleichheit hoffen brauchen – denn die existiert für sie nicht

Quatsch.

Chancengleichheit wird heute übrigens anderweitig kaputt gemacht. In den öffentlichen Dienst kommt man heute am besten mir einer dunkleren Hautfarbe und einer exotischen Herkunft.

Ostdeutsche findet man nur in homöopathischen Dosen in Führungspositionen

In der freien Wirtschaft haben wir uns vielleicht noch nicht an die Arbeitskultur gewöhnt. Sicher fehlt uns auch noch der Ehrgeiz dazu. Das wird sich in kommenden Generationen ändern. Im öffentlichen Dienst und im Militär mag das Methode haben. Vielleicht hält man uns Ossis für weniger loyal. Nun, zu linksgrün bin ich garantiert nicht loyal.

Der Riss geht heute m.E. nicht mehr durch Ost und West. Die Spaltung der Gesellschaft verläuft bekanntermaßen anders. Auch im Westen gibt es genug Leute, die von Realismus anstatt von Wunschdenken geprägt sind. Und auch im Osten hat die woke Dekadenz bereits Einzug gehalten. Wir Ossis mussten zu wenig kämpfen, zu wenig selbst erarbeiten. Warum auch? Es gab doch die Transfers. Polen, Ungarn, Tschechen usw. erging das anders, weshalb sie nicht in der Phase der Dekadenz sind. Wenn die nicht aufpassen, kann das aber auch noch kommen, wenn auch eine bis zwei Generationen später.

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[1]
Einigungsvertrages (...) Artikel 25 (...) Daran hat sich die deutsche Politik nicht gehalten.
(...) weil man den Kapitalstock einer Volkswirtschaft nicht auf einmal verkaufen kann, ohne dass der Preis in den Keller fällt. Man kann ihn nur verscherbeln.
(...) Die Mitarbeiter der DDR-Betriebe waren in der Regel sehr gut ausgebildet, und viele hatten zwei Berufsabschlüsse statt nur einen, wie es im Westen üblich ist. (...) Der Kommunismus ist nicht an defekten Schulen zugrunde gegangen.
(...) Das Potenzial, das die Treuhandbetriebe hatten, blieb (...) ungenutzt.
(...) Die Sinnhaftigkeit des Versuchs, den wirtschaftlichen Neuanfang der neuen Länder mit unverdächtigen Pfarrern und Poeten zu gestalten, ist diskutierbar.
(...) Die alternativen Privatisierungsmodelle hätten die Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft vermieden, und sie hätten vermutlich zu viel mehr Wohlstand und Wachstum bei weniger Finanzhilfe aus dem Westen geführt. Vor allem hätte das Eigentum dazu geführt, dass die Bevölkerung der neuen Länder sich stärker mit dem neuen System identifiziert hätte, als es heute der Fall ist.
(...) Große Fehler wurden zudem bei der Privatisierung der Wohnungsbestände gemacht.
(...) Westdeutsche Interessen spielten auch eine Rolle bei der ausufernden Lohnpolitik, die der Industrie nach der Wende den Todesstoß gab. (...) Die Verhandlungsführer aus dem Westen waren sich einig, dass es galt, den Aufkauf der Treuhandfirmen durch internationale Wettbewerber zu verhindern, die ihnen in Ostdeutschland zu niedrigeren Löhnen Konkurrenz machen würden. Das Kalkül: Wenn die Japaner kommen wollten, dann sollten sie gefälligst die gleichen Löhne zahlen müssen wie sie selbst im Westen. Politik und Medien spielten dazu die übliche Begleitmusik von der Angleichung der Lebensumstände und redeten von Brüdern und Schwestern.
(...) Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Vereinigungsgewinne wurden verteilt, die Glücksritter der ersten Stunden haben sich aus dem Staube gemacht, und der Sozialstaat sorgte für den Ausgleich. Die Steuerzahler des Westens finanzieren heute einen gut ausgebauten Sozialstaat, dessen Leistungen weit über dem liegen, was die ostdeutsche Wirtschaft selbst ermöglichen könnte.
Hans-Werner Sinn

http://www.hanswernersinn.de/de/ohne-eigentum-funktioniert-der-kapitalismus-nicht

[2]
„Der Osten hängt noch immer am Tropf des Westens
Hans-Werner Sinn, Münchner Merkur, 12./13. Oktober 2019, S. 3.
http://www.hanswernersinn.de/de/osten-haengt-am-tropf-des-westens-interview-merkur-12102019

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