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Avatar von blu_frisbee
  • blu_frisbee

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Re: nation building bottom-up

Pnyx (1) schrieb am 27.08.2021 18:14:

Ein verdienstvoller Versuch, die Taliban soziologisch einzuordnen, ihnen ein menschliches Gesicht zu geben.

Menschen irren meistens und die grössten Irrtümer geschehen, wenn sie sich einer Sache zu sicher sind und dogmatisch werden. Die religiöse Fundierung der Bewegung fördert diese Erscheinung, die aber auch aus vielen anderen, auch säkularen Bewegungen mit revolutionärem Anspruch bekannt ist.

Nach der enorm erfolgreichen Anfangsphase, die in diesem ersten Teil ansatzweise umrissen wird, folgte ebenso schnell ihre Verdrängung von der Macht und zweit Jahrzehnte lang die Mühen der Ebene. Wie Maurer einführend antönt, änderte die neuerliche Besetzung Afghanistans, dieses Mal durch die westlich-imperialen Kräfte die Legitimationsgrundlage der Taliban. Nicht mehr nur soziale Gerechtigkeit, sondern Befreiung und Selbstbestimmung wurden nun bestimmend.

Dies ermöglichte das Ablegen ethnisch-tribaler Beschränktheit, eine Nationalisierung der Bewegung. Inwieweit die langen Jahre des Guerilla-Krieges um die Macht zu einer Pragmatisierung und damit Aufweichung ihrer religiös begründeten Dogmatik geführt hat, wird sich im Lauf der kommenden Jahre weisen. Man kann diesbezüglich auch eine gewisse Heterogenität erwarten, eine Abhängigkeit der politischen Praxis vom jeweiligen Personal.

Jedenfalls ist es essentiell, nicht alle islamistischen Bewegungen in denselben Topf zu werfen. Es gibt zwischen geographisch frei flotierenden Gruppen wie der Kaida und dem IS und den national verhafteten Taliban fundamentale Unterschiede. Wer über eine bestimmte Bevölkerung gebieten will, darf sie sich nicht zum Feind machen.

Es steht den Westlern auch nicht an, sich als säkularisiert und laizistisch aufzuspielen. Damit ist es in der westlichen Praxis auch nicht so weit her. Die religiösen Fundamente haben mehr Einfluss, als es auf den ersten Blick scheint. Oft verstecken sie sich bloss unter einem säkulären Mäntelchen. Nicht zu vergessen die in vielen Ländern einflussreichen christlichen Fundamentalisten.

In Gesellschaften, in denen die Religion eine deutlich stärkere Rolle spielt und in Zeiten totaler Desavouierung linker emanzipatorischer Projekte, kann es durchaus sein, dass die Religion den einzigen Ansatzpunkt zu einem Umsturz sozialer Verhältnisse bietet. Um jedoch erneuter Erstarrung zu entkommen, müssten sich diese Bewegungen langfristig quasi selbst überwinden. Das scheint fast unmöglich.

Ich dachte die Taliban sind eine Bewegung mit reaktionärem Anspruch, ein Bündnis von Feudalherren mit Klerus? Es wäre natürlich der Treppenwitz der Geschichte daß 20 Jahre Befreiungsguerilla diese zur nationalen Bewegung schweißt.
Quasi nation building bottom-up statt top-down wie sich das Imperium das imaginierte.

Im übrigen wird man sehen wie weit die Anforderungen der Moderne und der Aufbau eines Staatswesens die Taliban zwingen sich anzupassen. Wird man weibliche Ärzte zur Geburtshilfe zulassen? Der Kapitalismus ist ja gegenüber dem Feudalismus progressiv.

Es gibt auch innerhalb der Taliban Dissens und analfabetische Fußsoldaten marodieren auch wos der Führung nicht recht ist. Wirds einen Bersarin geben (der die Vergewaltigungen abgestellt hat, zT mit standrechtlicher Erschießung)?

al-Qaida ist diffuse Bewegung, IS will Kalifate, Taliban nur ein nationales Emirat.
Ich weiß nicht ob al-Qaida in AF relevant ist. Der IS ist eine Abspaltung davon,
mit radikaler internationalistischer Ausrichtung, die wollen den ganzen Planeten zur Umma machen (natürlich zu ihrer, da werden viele Moslems zu Ungläubigen erklärt).
Jedenfalls hatte USA mit Taliban koperiert beim Bombardieren des ISK¹. Und ich schätze, die USA werdens weiter tun. Man will auch Stabilität und Ansprechpartner.
Und Kalkulierbarkeit.

¹ Islamic State in Khorasan

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (28.08.2021 08:54).

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