Der Skandal ist für mich nicht, dass die IT-Industrie ihre Nutzer ausspioniert. Sondern dass die Nutzer das mit sich machen lassen, seit 20 Jahren. Alle wissen, wie's läuft. Doch niemand will auf "Apps" verzichten.
So, so. Für dich ist also "normales menschliches Verhalten" ein Skandal. Der Mensch hat sich gefälligst dem ihm (von Gott gegebenen?) Gesellschaftssystem anzupassen; nicht umgekehrt?!
Der Skandal ist vielmehr, dass die Industrie "normales menschliches Verhalten" gezielt ausnutzt, um die Menschen zu hintergehen, zu betrügen, ... und ihnen mit allerlei psychologischen Tricks am Ende noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen.
Und der Skandal ist, dass die Politik nicht, wie in einer Demokratie zwingend erforderlich, einen Ausgleich zwischen den Interessen schafft, sondern sich EINSEITIG ZUGUNSTEN einer Partei verhält.
Der Skandal ist also die SYSTEMATISCHE ABSCHAFFUNG der Demokratie durch das Zusammenwirken von Politik (lies: Macht) und Kapital (lies: Geld). Denn genau das - und das war eine der existenziellen Erkenntnisse aus der Weimarer Republik als "erstem ernsthaften Versuchsballon der Demokratie in Deutschland" - gilt es in einer Demokratie strikt zu trennen; noch viel mehr in einer auf Kapital fixierten Gesellschaft.
Wie nur kann man über Defizite eines politischen Systems lamentieren, wenn die Menschen, die in ihm leben, derart auf ihre Grundrechte scheißen?
Weißt du, seit Beginn dieses "soziale-Marktwirtschafts-Experiments" werden die Menschen systematisch belogen und betrogen. Die Werbung ("Wäscht weißer als weiß") ist dabei wohl das plakativste Beispiel.
Ein Gesellschaftssystem, das sich nicht an den Bedürfnissen der Menschen, sondern an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientiert, ist jedoch für die Menschen, und damit für die Gesellschaft als Ganzes, ziemlich untauglich.
Letzten Endes weiß man seit Jahrtausenden, dass die allermeisten Menschen einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen. In allen Systemen, ganz egal, ob du von der Antike, dem Mittelalter oder der Neuzeit sprechen möchtest.
Und genauso, wie es in der DDR rund 15 Millionen Menschen nicht interessiert hat, was die politische Ebene da treibt; weil sie schlicht damit beschäftigt und voll ausgelastet waren, ihr eigenes Leben zu leben; geht es den rund 80 Millionen Menschen in der Bundesrepublik heute: Am liebsten würden sie nur ungestört ihr Leben leben wollen.
DAS ist also die eigentliche Aufgabe einer Demokratie: Ein "ungestörtes Leben" ermöglichen. Und das ist folglich die Aufgabe der Politik, als "zum Vormund bestellter Vertreter".
Dabei beruht JEDE Gesellschaft auf GRUNDVERTRAUEN der Menschen ineinander: Genauso, wie ich darauf vertrauen muss, dass du mit deinem Auto wirklich stehenbleibst, und nicht etwa wieder anfährst, wenn ich genau vor deinem Auto über die Straße laufe, wollen die Menschen sich nicht zum "Lebensmittelchemiker" qualifizieren müssen, um darauf vertrauen zu können, dass beispielsweise "E375" nicht irgendwas "Lebensgefährliches" in ihren Lebensmitteln ist.
SIE MÜSSEN EINANDER VERTRAUEN KÖNNEN. Denn anderenfalls sähe es düster aus: Jeder müsste alles bis zur Perfektion können. Jeder müsste zum Finanzexperten, Lebensmittelexperten, IT-Experten, und was-weiß-ich-noch-alles werden.
++++++++++++++++++++++++++++++++
Und jeder müsste obendrein ALLES WISSEN. Denn im Grunde ist nicht die "Erhebung von Daten" das Problem, sondern der Teil hinter dem dunklen Vorhang; also die "Nutzung der erhobenen Daten".
++++++++++++++++++++++++++++++++
Nur ein einfaches Beispiel: Angenommen, es gäbe eine allumfassende medizinische Datenerhebung. Jedes Pinkeln auf dem Klo würde analysiert, ausgewertet und in deiner medizinischen Akte vermerkt werden. Jede Türklinke würde automatisch einen Abstrich machen und die Auswertung in deiner Akte vermerken. Jedes Auto, das du bewegst, würde atypisches Verhalten (etwa Alkohol- oder Drogeneinfluss) analysieren und ggf. vorbeugend handeln und in deiner medizinischen Akte vermerken.
... Kurz gesagt: Deine Gesundheit würde überall permanent überwacht. Dann gäbe es zwei Extrem-Auflösungen dafür:
Im Idealfall würdest du umgehend ins Krankenhaus beordert, wenn sich auch nur der Ansatz einer Krankheit abzeichnet. Man würde dich behandeln, BEVOR es zu Komplikationen und die Lebensqualität beeinflussenden Schwierigkeiten kommt. Das würde nicht nur dein Leben verlängern, sondern obendrein sogar das gesamte Gesundheitssystem erheblich entlasten können, weil es i.d.R. sehr viel billiger ist, den Beginn einer Krankheit zu behandeln, als dessen mehr oder weniger fortgeschrittenen Verlauf.
Im schlechtesten Fall werden diese Daten jedoch von Anderen "missbraucht": Dein potenzieller Arbeitgeber stellt dich nicht ein, weil deine letzten medizinischen Analysen auf mögliche Beeinträchtigungen deiner Arbeitsleistung hinweisen. Ein "politischer Diktator" könnte auf die Idee kommen, dein Leben als "unnützer Sauerstoff-Wegatmer" vorfristig zu beenden. (Letzteres geschah beispielsweise mit der "Rosa Liste" bei den Nazis; ist also gar nicht soooo unwahrscheinlich, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Und wenn man etwa die Entwicklungen in Polen und Ungarn betrachtet, ist es auch gar nicht sooo fern, wie man es sich vielleicht wünschen würde.)
Du siehst also: Nicht die Erhebung, sondern die Nutzung der Daten ist das eigentliche Problem. Und wieder gilt, dass die Politik, als Mittler zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, in der ALLEINIGEN Pflicht steht. Denn nur sie - und ALLEIN SIE - verfügt über die notwendigen Informationen (bzw. kann sie sich leichthin beschaffen, etwa, indem sie "umfassende Information" zur gesetzlichen Grundlage aller Entscheidungen macht).
... Die Menschen "scheißen" also gar nicht auf ihre Grundrechte. Im Gegenteil: Sie bestehen selbst dann, wenn sich ein Missbrauch abzeichnet, darauf. Doch die "Bestrafung des Missbrauchs" ist Aufgabe der Politik, will man Lynchjustiz und den Zusammenbruch eines demokratischen Rechtsstaats vermeiden. Das haben ironischerweise alle Partizipanten anerkannt.
Wenn also die Politik in ihrer Kernaufgabe als Mittler zwischen Gesellschaft und Wirtschaft versagt, dann ist dieses Versagen ein Versagen der Politik, die sich nicht an die Vorgaben der Gesellschaft hält; nicht jedoch ein Versagen der Gesellschaft, die sich partout nicht an die Vorgaben der Politik halten will.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
Oder einfacher ausgedrückt: Wenn es in einem System eine offensichtliche Lücke zwischen "Bedarf der Gesellschaft" und "Umsetzung durch die Politik" gibt, dann ist das System falsch; nicht die Menschen.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++