Vielleicht zuvor der Disclaimer, daß ich mich mit militärischen Fragen nicht sonderlich gut auskenne, also etwa mit der Frage, wie realistisch eine Blockade des Finnischen Meerbusens oder wie wichtig der Zugang zur Ostsee für Rußland wirklich ist. Ich verlasse mich hier auf unsere eigenen staatsnahen Medien, die ich zur Not gegen die Intention ihrer Autoren lese, sowie auf andere Quellen, die ich über einen längeren Zeitraum verfolge, um zu sehen, ob sie mit ihren Einschätzungen richtig liegen. Das Zeitfenster für eine russische Invasion im Baltikum sehe ich in den folgenden Ausführungen im Rahmen einer niedrigen zweistelligen Zahl von Monaten, etwa ein knappes Jahr bis allenfalls drei Jahre, so daß Ihr Einwand
Man ist in der Ostukraine noch genügend beschäftigt.
nicht unbedingt greift.
Ich bin aber nicht der Meinung, dass Russland einen weiteren Präventivschlag a la Ukraine in die Tat umsetzt, um sich einen strategischen Vorteil zu sichern.
Meiner Meinung nach ist Putin in dieser Situation unter Zugzwang, wie ich hier ausgeführt habe. Es geht also nicht so sehr um einen strategischen Vorteil, sondern um die Abwendung des Unterganges der GUS oder wenigstens die Abwehr eines sehr gravierenden Nachteils (Verlust der Exklave Kaliningrad).
Erstens sind keine ausreichende Kräfte da, um im Nordwesten eine großangelegte Offensive gegen die baltischen Nato-Staaten zur Kontrolle der Suwalki-Lücke erfolgreich langfristig zu Ende zu bringen. Man ist in der Ostukraine noch genügend beschäftigt. Zweitens hätte Lukaschenkow auch noch ein Wort mitzureden. Der schwingt zwar immer großmäulige Reden und hat Russland im Ukrainekonflikt logistisch unterstützt, aber sein Militär aktiv aus dem Konflikt herausgehalten . Drittens würde dies den Bündnisfall der Nato mit allen Konsequenzen zur Folge haben, wenn nicht der Sultan vom Bosporus aus fadenscheinigen Gründen dagegen mauert u.a. weil er mit den Russen eigene Deals am Laufen hat und damit ein Eingreifen verzögert. Viertens würde dieser am Anfang zwar konventionell geführte weitere Konflikt innerhalb kurzer Zeit in einen nuklearen Schlagabtausch münden. Ganz lebensmüde sind die Russen und auch die Nato-Staaten noch nicht.
Stimmt zwar alles, aber es gibt auch Gegenargumente. Es gibt Hinweise darauf, daß die Situation im Vereinigten Königreich als entsprechend ernsthaft angesehen wird https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-sonntag-151.html#Armeechef . Natürlich zeigt diese Meldung erst einmal nur, daß man dort eine Eskalation des Ukraine-Krieges befürchtet, und nicht unbedingt, daß sie für unvermeidbar hält oder gar herbeiführen möchte. Naheliegender Auslöser für eine solche Eskalation wäre natürlich die Teilblockade Kaliningrads und die hier drohende vollständige Blockade, auch wenn die Pressemeldung dies aus verständliche Gründen nicht sagt.
Was die möglichen Überlegungen des Kreml und die Sachzwänge angeht, denen Rußland unterliegt, sehe ich folgende Gegenargumente: (A) Die militärische Zerschlagung der Ukraine als Staat wäre 2014 möglicherweise einfacher gewesen. Das ist mit Gegenaktionen im Baltikum vermutlich auch so.
(B) Die Annektion der baltischen Kleinstaaten wäre wahrscheinlich einfacher als die Annektion Finnlands, auch wenn es dort schon NATO-Infrastruktur gibt. Möglicherweise ist diese für eine Abwehr eines ernsthaften russischen Angriffes noch nicht ausreichend, https://www.youtube.com/watch?v=0SWxOHAbBYA&t=58s . Wobei man natürlich bei Äußerungen ehemaliger NATO-Generäle immer auch die Möglichkeit in Betracht ziehen muß, daß diese Rußland in eine Falle locken wollen. Ähnlich wie bei A schließt sich hier für Moskau irgendwann ein Zeitfenster.
(C) Die NATO-Staaten können nicht im selben Umfang wie die Ukraine Soldaten verheizen. Das ginge noch nicht einmal in Polen, das übrigens auch keine Wehrpflicht mehr hat. Und auch die Ukraine stößt in dieser Frage vielleicht demnächst auf Grenzen. Im Gegensatz dazu könnte Putin die allgemeine Mobilmachung verkünden, wenn er dies als Reaktion auf eine Drohung der NATO gegenüber der territorialen Integrität GUSlands verkaufen kann.
(D) Die Eskalationsmöglichkeiten der NATO würden alle weitere Eskalationen Rußlands nach sich ziehen. Dabei ist natürlich zwischen den Interessen der Bevölkerung der NATO-Staaten und der jeweiligen Eliten zu unterscheiden, und die Frage ist, wie Moskau die Loyalität dieser Eliten einschätzt. Ich würde für meine Überlegungen unterstellen, daß man dort von einer fehlenden Loyalität in Westeuropa und besonders in Deutschland ausgeht. Darauf deuten die Äußerungen hin, die EU als Anhängsel der USA und der NATO zu sehen. Was Polen angeht, wird man die Lage möglicherweise anders einschätzen.
Es könnte also sein, daß man versuchen wird, Polen klar zu machen, daß Warschau so aussehen wird wie jetzt Sewerodonezk, wenn es zu einer Eskalation mit ernsthafter Beeinträchtigungen der zivilen Infrastruktur Rußlands kommt, und daß der Westen wirtschaftlich schon so weit heruntergekommen ist, daß er den Wiederaufbau Polens nicht leisten kann. Besonders dann nicht, wenn Deutschland ähnlich stark betroffen ist.
(D) Die Situation ist für Putin insgesamt existenzbedrohend und Lukaschenko sitzt letztlich doch mit Putin in einem Boot. Zur Not könnte man das Baltikum vielleicht auch von Rußland aus und über die See angreifen.
(E) Ob die Türkei in den Krieg mit Rußland eintritt oder die NATO verläßt und die Gelegenheit zu einem Angriff auf Griechenland nutzt, ist nicht klar.
(F) Es ist schwer einzuschätzen, in welchem Maße die NATO bereits Ausrüstung in der Ukraine verheizt hat oder im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive im Spätsommer oder Herbst noch verheizen wird, die nicht kurzfristig ersetzt werden kann. Beispielsweise können Stinger-Raketen anscheinend nicht kurzfristig ersetzt werden. Auch das Zögern der Bundesrepublik, Ausrüstung zu liefern, die man für die Bundeswehr vielleicht doch noch braucht, deutet in diese Richtung. Dazu generell https://rusi.org/explore-our-research/publications/commentary/return-industrial-warfare .
Dieser Punkt ist ähnlich zu (A), es schließt sich also hier für Rußland ein Zeitfenster etwa in der eingangs angenommenen Größenordnung.
(G) Die innere Stabilität einiger Staaten Westeuropas ist auch problematisch, gerade auch in der Bundesrepublik. Ich sehe beispielsweise den Verzicht auf die Impfpflicht durchaus auch als Reaktion auf die Spaziergänge an, die teilweise bedrohlich nahe an den Privatwohnungen von Lokalpolitikern stattgefunden haben, denen man nicht allen Polzeischutz geben kann (ich bin selber zweimal geimpft und zwar durchaus auch, weil ich mir davon bessere Karten im Fall einer möglichen Corona-Infektion verspreche).
Würde unser politisches System stabil bleiben oder kommt es zu flächendeckenden Unruhen, wenn die Leute im Winter erstmals ernsthaft hungern und frieren? Und was wäre, wenn russische Gegenschläge gegen NATO-Angriffe anfangen, unsere Infrastruktur zu beeinträchtigen, was selbst bei rein konventionellen Gegenschlägen und strenger Beschränkung auf militärische Ziele der Fall wäre. Und was wäre im Fall eines mehrwöchigen Zusammenbruches der Stromversorgung? Rußland ist wahrscheinlich zu derartigen Angriffen in der Lage, wie sie der Westen Serbien gegenüber angewendet hat.
Punkte (G) und (F) kann Moskau vielleicht im Winter besser einschätzen. Das wäre für mich auch ein naheliegenderer Zeitpunkt für einen Angriff als jetzt. Entscheidend ist für mich letztlich, daß ich Putin unter Zugzwang sehe und sich für Rußland in mancherlei Hinsicht auch Zeitfenster schließen. Daß die NATO die einmal indirekt ausgesprochene Drohung gegenüber der territorialen Integrität GUSlands noch zurüchkehmen kann, glaube ich nicht. Ich halte daher einen russischen Angriff auf das Baltikum für eher wahrscheinlich (>50%), auch wenn ich sicher nicht sehr hohe Beträge darauf wetten würde.