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Avatar von Eiger Nordwand
  • Eiger Nordwand

mehr als 1000 Beiträge seit 10.11.2018

Re: Gegenargumente

Stimmt zwar alles, aber es gibt auch Gegenargumente. Es gibt Hinweise darauf, daß die Situation im Vereinigten Königreich als entsprechend ernsthaft angesehen wird https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-sonntag-151.html#Armeechef . Natürlich zeigt diese Meldung erst einmal nur, daß man dort eine Eskalation des Ukraine-Krieges befürchtet, und nicht unbedingt, daß sie für unvermeidbar hält oder gar herbeiführen möchte. Naheliegender Auslöser für eine solche Eskalation wäre natürlich die Teilblockade Kaliningrads und die hier drohende vollständige Blockade, auch wenn die Pressemeldung dies aus verständliche Gründen nicht sagt.

Das ist eben nicht auszuschließen. Entsprechende Planspiele unter Abwägung aller Eventualitäten wird man sowohl in der Stawka, im Nato-Hauptquartier und auch in den Generalstäben der einzelnen Mitgliedsländer durchexerzieren, unabhängig, ob der Ernstfall eintritt.

Was die möglichen Überlegungen des Kreml und die Sachzwänge angeht, denen Rußland unterliegt, sehe ich folgende Gegenargumente: (A) Die militärische Zerschlagung der Ukraine als Staat wäre 2014 möglicherweise einfacher gewesen. Das ist mit Gegenaktionen im Baltikum vermutlich auch so.

Von dieser Seite aus betrachtet ja. 2014 beschränkte man sich auf die Krim mit den strategisch für Russland äußerst wichtigen Militärhafen Sewastopol und auf die mehr oder weniger intensive Unterstützung der "Separatisten" im Donbass. Die ukrainische Armee hätte im Falle einer kompletten russischen Invasion 2014 kaum etwas entgegenzusetzen gehabt.

(B) Die Annektion der baltischen Kleinstaaten wäre wahrscheinlich einfacher als die Annektion Finnlands, auch wenn es dort schon NATO-Infrastruktur gibt. Möglicherweise ist diese für eine Abwehr eines ernsthaften russischen Angriffes noch nicht ausreichend, https://www.youtube.com/watch?v=0SWxOHAbBYA&t=58s . Wobei man natürlich bei Äußerungen ehemaliger NATO-Generäle immer auch die Möglichkeit in Betracht ziehen muß, daß diese Rußland in eine Falle locken wollen. Ähnlich wie bei A schließt sich hier für Moskau irgendwann ein Zeitfenster.

Zusammengenommen sind die baltischen Staaten immerhin halb so groß wie die Bundesrepublik - mit allerdings nur 6 mio Inwohnern. Militärisch hätten diese Staaten Russland natürlich nichts entgegenzusetzen. Auch die Nato-Kontigente sind ehr symbolischer Natur. Allerdings lebt dort eine zahlenmäßig nicht unerhebliche russische Minderheit. Dieser Umstand würde eine Annexion natürlich erleichtern. Falle? Eventuell ja, aber nur bedingt- weil man sicher weiß, dass sich irgendwann für die Russen das strategisch günstige Zeitfenster schließt. Erfordert vorher allerdings ein massive Aufstockung der Nato-Truppen in Polen, Baltikum, Finnland und zeitgleich die Verstärkung der Marine. Es wäre ehr eine politische Falle, denn eine militärische.

(C) Die NATO-Staaten können nicht im selben Umfang wie die Ukraine Soldaten verheizen. Das ginge noch nicht einmal in Polen, das übrigens auch keine Wehrpflicht mehr hat. Und auch die Ukraine stößt in dieser Frage vielleicht demnächst auf Grenzen. Im Gegensatz dazu könnte Putin die allgemeine Mobilmachung verkünden, wenn er dies als Reaktion auf eine Drohung der NATO gegenüber der territorialen Integrität GUSlands verkaufen kann.

Absolut, die Bundeswehr ist weder personell noch technisch dazu in der Lage, auch die Briten und Franzosen nicht. Ein konventioneller Krieg in Osteuropa mit andauernd hohen Verlusten würde in den westeuropäischen Ländern schnell zu politischen Unruhen unter der Bevölkerung führen - zumal ja noch extra Belastungen hinzukommen - vorrangig ökonomischer Art. Russland kann dies seiner Bevölkerung besser "verkaufen". Energie,-, Rohstoff,- u. Nahrungsmitteltechnisch ist Russland autark, was man vom restlichen Europa schwer behaupten kann.

(D) Die Eskalationsmöglichkeiten der NATO würden alle weitere Eskalationen Rußlands nach sich ziehen. Dabei ist natürlich zwischen den Interessen der Bevölkerung der NATO-Staaten und der jeweiligen Eliten zu unterscheiden, und die Frage ist, wie Moskau die Loyalität dieser Eliten einschätzt. Ich würde für meine Überlegungen unterstellen, daß man dort von einer fehlenden Loyalität in Westeuropa und besonders in Deutschland ausgeht. Darauf deuten die Äußerungen hin, die EU als Anhängsel der USA und der NATO zu sehen. Was Polen angeht, wird man die Lage möglicherweise anders einschätzen.

Es könnte also sein, daß man versuchen wird, Polen klar zu machen, daß Warschau so aussehen wird wie jetzt Sewerodonezk, wenn es zu einer Eskalation mit ernsthafter Beeinträchtigungen der zivilen Infrastruktur Rußlands kommt, und daß der Westen wirtschaftlich schon so weit heruntergekommen ist, daß er den Wiederaufbau Polens nicht leisten kann. Besonders dann nicht, wenn Deutschland ähnlich stark betroffen ist.

(D) Die Situation ist für Putin insgesamt existenzbedrohend und Lukaschenko sitzt letztlich doch mit Putin in einem Boot. Zur Not könnte man das Baltikum vielleicht auch von Rußland aus und über die See angreifen.

Die Kriegs,- u. Opferbereitschaft der westlichen (vorrangig EU-Eliten) ist nicht sehr ausgeprägt, vor allen bei den Wirtschaftseliten. Bei "politischen" Eliten (aber für mich sind das keine Eliten) schaut es teilweise anders aus. Da gibt es etliche "Scharfmacher" und "Einpeitscher". Unter der allgemeinen Bevölkerung gäbe es auf keinen Fall so eine Kriegsbegeisterung wie 1914. Das war schon 1939 nicht mehr so gegeben.

(E) Ob die Türkei in den Krieg mit Rußland eintritt oder die NATO verläßt und die Gelegenheit zu einem Angriff auf Griechenland nutzt, ist nicht klar.

Das hatte ich schon angesprochen. Wie sich der Sultan am Bosporus verhalten würde, weiß wohl nicht einmal Allah. Vielleicht wartet er in einem Falle eines Falles unter Ausflüchten ab und richtet sein späteres Verhalten an den jeweiligen Erfolgsaussichten der Kontrahenten aus. Falls Russland die Oberhand behält, könnte es sein, dass er die Gelegenheit nutzt, um Griechenland anzugreifen. Im umgekehrten Fall könnte er einen Searaid auf die Krim starten. Jedenfalls schätze ich ihn so ein.

(F) Es ist schwer einzuschätzen, in welchem Maße die NATO bereits Ausrüstung in der Ukraine verheizt hat oder im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive im Spätsommer oder Herbst noch verheizen wird, die nicht kurzfristig ersetzt werden kann. Beispielsweise können Stinger-Raketen anscheinend nicht kurzfristig ersetzt werden. Auch das Zögern der Bundesrepublik, Ausrüstung zu liefern, die man für die Bundeswehr vielleicht doch noch braucht, deutet in diese Richtung. Dazu generell https://rusi.org/explore-our-research/publications/commentary/return-industrial-warfare .

Dieser Punkt ist ähnlich zu (A), es schließt sich also hier für Rußland ein Zeitfenster etwa in der eingangs angenommenen Größenordnung.

So wie sich die militärische Lage im Moment abzeichnet, ist eine Niederlage der Ukraine im Donbass nicht mehr aufzuhalten. Man wird versuchen, mit den versprengten Resten der AFU bei den Städten Slawjansk und Kramatorsk noch einmal mühsam eine Verteidigungslinie zu errichten, aber die wird auch nicht lange halten. An eine Gegenoffensive im Herbst oder Winter ist nicht zu denken, schon gar nicht ohne ausreichende Luftunterstützung. Dazu wäre ein aktives Eingreifen der Nato erforderlich. Mit Landwehrmännern und Rekruten nach 6 Wochen Grundausbildung ist nichts auszurichten. Ansonsten hätte man längst schon einen Entlastungsangriff im Norden auf russisches Territorium starten können. In den Oblasten Tschernigow und Sumy gibt es eine unmittelbare Grenze zu Russland. Der Westen ist eben nicht in der Lage, Großkampfgerät in erforderlicher Stückzahl zu liefern. Von Kampfflugzeugen ganz zu schweigen. Man gerät an seine Grenzen.

(G) Die innere Stabilität einiger Staaten Westeuropas ist auch problematisch, gerade auch in der Bundesrepublik. Ich sehe beispielsweise den Verzicht auf die Impfpflicht durchaus auch als Reaktion auf die Spaziergänge an, die teilweise bedrohlich nahe an den Privatwohnungen von Lokalpolitikern stattgefunden haben, denen man nicht allen Polzeischutz geben kann (ich bin selber zweimal geimpft und zwar durchaus auch, weil ich mir davon bessere Karten im Fall einer möglichen Corona-Infektion verspreche).

Würde unser politisches System stabil bleiben oder kommt es zu flächendeckenden Unruhen, wenn die Leute im Winter erstmals ernsthaft hungern und frieren? Und was wäre, wenn russische Gegenschläge gegen NATO-Angriffe anfangen, unsere Infrastruktur zu beeinträchtigen, was selbst bei rein konventionellen Gegenschlägen und strenger Beschränkung auf militärische Ziele der Fall wäre. Und was wäre im Fall eines mehrwöchigen Zusammenbruches der Stromversorgung? Rußland ist wahrscheinlich zu derartigen Angriffen in der Lage, wie sie der Westen Serbien gegenüber angewendet hat.

Diesen Punkt hatte ich weiter oben schon kurz angeschnitten. Ein konventioneller Angriff auf die wichtigsten Kraftwerke, welche die Ballungsräume mit Elektroenergie versorgen und auf die wichtigsten Verteilerknotenpunkte reicht schon aus, um das Land innerhalb weniger Tage in das allgemeine Chaos zu stürzen. Auch wenn man vielleicht gnädigerweise die Atommeiler in Ruhe lässt. Ich habe in einem Video den Einschlag einer Kinzhal gesehen. Das war ziemlich überzeugend und diese Dinger sind nicht abzufangen.

Punkte (G) und (F) kann Moskau vielleicht im Winter besser einschätzen. Das wäre für mich auch ein naheliegenderer Zeitpunkt für einen Angriff als jetzt. Entscheidend ist für mich letztlich, daß ich Putin unter Zugzwang sehe und sich für Rußland in mancherlei Hinsicht auch Zeitfenster schließen. Daß die NATO die einmal indirekt ausgesprochene Drohung gegenüber der territorialen Integrität GUSlands noch zurüchkehmen kann, glaube ich nicht. Ich halte daher einen russischen Angriff auf das Baltikum für eher wahrscheinlich (>50%), auch wenn ich sicher nicht sehr hohe Beträge darauf wetten würde.

Russland ist ohne Zweifel im Zugzwang. Kommt auch drauf an, wann die die Donbass-Operation weitestgehend abgeschlossen sein wird. Zu gelegentlichen Scharmützeln an der Frontlinie zur Ukraine wird es immer wieder kommen. Dieses Jahr ist auf keinen Fall mehr mit einer umfassenden Gegenoffensive der Ukrainer zu rechnen - dafür reichen deren Ressourcen derzeit nicht aus. Siehe dein Punkt F.
Allerdings zeichnet sich schon eine weitere Eskalation ab. Weißrussland erhält Nuklearwaffen - im Rahmen einer "nuklearen Teilhabe". Die Oberhoheit über diese Waffen behält sich natürlich Russland vor - ähnlich wie die US-Atombomben in Büchel. Russland und Weißrussland sind in einem gemeinsamen Militärbündnis. Die entsprechenden Beschlüsse sollen heute gefasst worden sein.

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