Was Sie schreiben stimmt zwar weitgehend, aber man muß auch nüchtern die Gegenargumente sehen. Die meisten möchte ich lieber in einer separaten Antwort bringen und mich hier auf den wichtigsten konzentrieren. Mir erscheint Ihre Einschätzung
Aber die Aktion Litauens war eine Provokation gegenüber Russland und wurde dort auch als solche aufgefasst, muss man nüchtern konstatieren.
als eine Untertreibung, wenn man die Aktion Litauens im Zusammenhang mit dem drohenden NATO-Beitritt Finnlands sieht, womit eine Blockade des Finnischen Meerbusens durch die NATO (oder, wahrscheinlicher, eine Teilmenge der Menge der NATO-Staaten, genannt "Koalition der Willigen" oder ähnlich) in greifbare Nähe rückt. Es handelt sich auch nicht um eine Aktion Litauens, sondern der EU, denn von Borrell kam ja sofort Zustimmung. Es ist auch unwahrscheinlich, daß das nicht vorher abgesprochen wurde. Auch eine Absprache mit der NATO-Führungsspitze scheint mir wahrscheinlich.
Damit handelt es sich um eine, wenn auch nicht ganz explizit formulierte Drohung der NATO, die Verkehrverbindungen zwischen Rußland und der Exklave Kaliningrad vollständig zu unterbrechen, sobald einmal die nötige militärische Infrastruktur für die Blockade des Finnischen Meerbusens vorhanden ist. Die NATO bedroht damit erstmals ernsthaft die territoriale Integrität der GUS, wenn auch im Moment noch nicht wirklich explizit. Diese Drohung kann auch im Grunde nicht mehr zurückgenommen werden, außer der NATO-Beitritt Finnlands (Schweden ist hier nicht so relevant) wäre dauerhaft vom Tisch oder die NATO-Statuten werden so geändert, daß der Bündnisfall nicht eintritt, wenn der Angriff auf einen NATO-Staat die Reaktion auf dessen Blockade der Verkehrsverbindungen zwischen einem souveränen Staat und seiner Exklave ist. An Verträge der NATO mit Rußland oder gar Zusicherungen wird Putin mit Recht nicht mehr glauben.
Ich sehe Putin damit unter Zugzwang, eine Situation, die ich in der Ukraine so nicht gesehen hätte. Soll Putin zuwarten, bis sich die NATO in Finnland und im Baltikum so weit etabliert hat, daß ein Angriff von vornherein hoffnungslos ist? Damit gibt er die Exklave Kaliningrad mittel- bis langfristig auf, denn daß eine entsprechende Blockade der NATO letztlich stattfinden wird, erscheint mir so sicher wie das Amen in der Kirche.
Einen vergleichbaren Zugzwang in der Ukraine hätte ich zu Anfang des Jahres nicht gesehen. Es gab zwar den permanenten Bruch von Minsk II mit einer fünfstelligen Opferzahl unter der Zivilbevölkerung und jüngste Eskalationen Kiews mit dem Einsatz von Bayraktar-Drohnen im Oktober 2021 (https://www.youtube.com/watch?v=C1ARa-BGcHs&t=330s), aber diese Territorien waren nie Teil der GUS, und man hätte sich auf diese Eskalation vielleicht auch eine weniger riskante Antwort überlegen können. Daß Putin der Geduldsfaden gerissen ist, erscheint mir zwar im Hinblick auf die zivilen Opfer verständlich, war aber vielleicht der erste wirkliche Fehler Putins. Vermutlich hatten ihn seine Geheimdienstler schlecht informiert und er hat die Kosten, in eigenen Opfern und Opfern unter der ukrainischen Zivilbevölkerung, massiv unterschätzt. Bis zum Frühjahr wäre meine Einschätzung gewesen, daß Putin in seiner gesamten Amtszeit keinen ernsthaften Fehler gemacht hat, wenigstens was die Außenpolitik angeht.
Für mich ist dieser harte Zugzwang, den ich so in der Ukraine nicht gesehen hätte, der entscheidende Grund, warum ich an eine militärische Eskalation der Lage an der Suwalki-Lücke oder generell im Baltikum glaube, wenn nicht noch irgendeine Art von Wunder geschieht.
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (25.06.2022 15:27).