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spon: der grosse bruder kehrt zurück

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http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,249779,00.html

ÜBERWACHUNG IN DEN USA

Der Große Bruder kehrt zurück

Von Markus Becker

Die US-Regierung plant ein System, das die Überwachung der Bürger in
nie gekannte Dimensionen vorantreiben würde. Das
Verteidigungsministerium will künftig jedes Detail des Privatlebens
von Bürgern speichern - von Kontobewegungen über den Kauf
regierungskritischer Bücher bis hin zu biometrischen Daten, durch die
Menschen auch auf Entfernung erkannt werden sollen.


AP
Überwachungs- kameras: Angst vor der totalen Kontrolle
Hamburg - Amerikanische Bürgerrechtler und wohl auch manche
Parlamentarier erlebten kurz nach den Terroranschlägen des 11.
September 2001 ein böses Erwachen: Im Eilverfahren hatte der Kongress
den "Patriot Act" abgesegnet. Das Gesetz, von dem es heißt, viele
Abgeordnete hätten es vor der Abstimmung gar nicht gelesen, schränkte
zahlreiche Bürgerrechte massiv ein.

Im Februar dieses Jahres wurde es dann selbst dem US-Kongress zu
bunt, als die Regierung ein Programm namens "Total Information
Awareness" ("totales Informationsbewusstsein") auf die Beine stellen
wollte. Die Bedenken der Parlamentarier unter Führung des
demokratischen Senators Ron Wyden waren so groß, dass sie den
Gesetzesentwurf abschmetterten und Aufklärung verlangten.

Altes Vorhaben mit neuem Etikett

Nun startet die Regierung Bush einen zweiten Versuch, nur unter
anderem Etikett: "Terrorist Information Awareness" (TIA). "Der
frühere Name hat bei manchen den Eindruck erweckt, dass ein System
zur Aufstellung von Dossiers über US-Bürger errichtet werden sollte",
räumte die Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums,
Darpa (Defense Advanced Research Projects Agency) ein. Dabei wolle
man lediglich Terroristen auf die Spur kommen.

Außer dem Namen aber soll sich an der Big-Brother-Initiative kaum
etwas ändern. Die Pentagon-Planer erklärten sich lediglich bereit,
Stichproben aus ihren zu erwartenden gewaltigen Datenmengen zu
Kontrollzwecken zur Verfügung zu stellen und technische Vorrichtungen
gegen Missbrauch einzuführen.


AP
Videoüberwachung in den USA: Traum vom "gläsernen Bürger"
Ansonsten aber könnte die zweite Auflage der Schnüffel-Attacke noch
weiter gehen als die erste Version, die unter US-Bürgerrechtsgruppen
und in liberalen Medien bereits einen Proteststurm entfacht hatte.
Herzstück des geplanten Systems ist eine Datenbank, die öffentliche
und private Informationen über Bürger enthalten und die Suche nach
Mustern terroristischer Umtriebe erlauben soll. Nach Informationen
der "Washington Post" will das Pentagon in diesem Jahr 9,2 Millionen
und in den kommenden beiden Jahren weitere 44,5 Millionen Dollar in
das Projekt investieren.

Erfasst werden soll unter anderem der Internet-Verkehr, kommerzielle
und staatliche Datenbanken von Finanzinstituten, Reiseunternehmen
sowie Gesundheits- und Verkehrsbehörden. Schon seit dem "Patriot Act"
müssen auch Bibliotheken und Buchhandlungen Daten über das
Leseverhalten ihrer Kunden an die staatlichen Ermittler weitergeben.
Das TIA-Programm würde gewaltige Datenmengen sammeln. Wie die
Nachrichtenagentur AP meldet, könnten die Informationen binnen kurzem
nur noch in Petabyte (eine Millionen Gigabyte) gemessen werden.

Eingriff in alle Lebensbereiche

Zum Entsetzen von Bürgerrechtlern ist das nicht alles: Die Darpa gab
jetzt bekannt, auch ein Projekt namens "Lifelog" zu verfolgen, in
dessen Rahmen alles über einen Menschen aufgezeichnet werden soll,
was sich elektronisch überhaupt aufzeichnen lässt. Jede E-Mail, jedes
Bild, jede angesteuerte Webseite, jedes Telefongespräch, jede
angeschaute Fernsehsendung, jede gelesene Zeitung, jedes Buch soll
erfasst und analysiert werden. Dem Auge des Großen Bruders soll
nichts entgehen.

Zusätzlich soll die Biometrik helfen, Menschen auf der Spur zu
bleiben. Gesichtsform, die Iris und sogar der Gang sollen jedes
Individuum identifizierbar machen: Radarstrahlen werten dabei die
Bewegungen aus und erkennen ein Muster, das so einzigartig sein soll
wie ein Fingerabdruck. Damit wäre es nach Angaben der Darpa erstmals
möglich, Menschen auch ohne direkten Kontakt sicher zu
identifizieren.


Elektronische Gesichtserkennung: Identifizierung ohne direkten
Kontakt
Das Verteidigungsministerium beteuert, die machtvolle
Informations-Waffe lediglich zur Erkennung terroristischer
Verhaltensmuster zu benutzen - wie immer die aussehen mögen.
Bürgerrechtsgruppen aber glauben, dass alle denkbaren
Verhaltensmuster aus dem Datenmeer gefischt werden können.

Ob die Bevölkerung in den USA den Plänen der Regierung größeren
Widerstand entgegensetzen wird, erscheint fraglich angesichts des
gegenwärtigen Konformitätsdrucks in der amerikanischen Gesellschaft.
Während des Irak-Kriegs etwa wurden Jugendliche wegen T-Shirt-Texten
wie "Give Peace A Chance" von Lehrern bestraft und in Einkaufszentren
mit Hausverbot belegt. Bibliotheken melden, dass Kunden aus Angst vor
Bespitzelung vor der Lektüre regierungskritischer Bücher
zurückschrecken.

Country-Band im Visier der Flaggenwedler

Selbst Country-Bands, ansonsten nicht eben für sozialkritische oder
gar linksliberale Texte bekannt, dürfen nicht mehr ungestraft ihre
Meinung äußern. Die Darlings der US-Countrymusik, die Dixie Chicks,
hatten es vor einigen Wochen gewagt, öffentlich Scham darüber zu
äußern, dass sie aus demselben US-Bundesstaat stammen wie der Texaner
George W. Bush.


IN SPIEGEL ONLINE
· Schwedischer Minister: "Bush ist ein Texas-Greis" (23.05.2003)
· Terrorschutz: Amerikas virtuelles Wachbataillon (23.05.2003)
· Terroristenjagd: USA wollen Attentäter am Gang erkennen
(21.05.2003)
· Opinion: Dancing With the Devil (22.05.2003)
· US-Gesetzesentwurf: Vom "Land of the free" zum Überwachungsstaat
(06.03.2003)
· Lauschangriff auf US-Buchläden: Big Brother liest mit (03.03.2003)
· Bushs zweite Front: Angst vorm Dolchstoß aus der Heimat
(14.03.2003)
· US-Senatsbeschluss: Bauchlandung für Big Brother [€] (28.01.2003)

Trotz umgehender Entschuldigung wurde das Trio wochenlang von
Radiosendern und Fans boykottiert. Zu den Academy of Country Music
Awards erschienen die Musikerinnen am Mittwoch erst gar nicht. Sie
werden gewusst haben, warum: Der Moderator musste nur den Namen des
Trios nennen, um ein gellendes Pfeifkonzert zu entfachen. Dass die
Band trotz dreier Nominierungen leer ausging, gilt als Zeichen, dass
die Fans den Texanerinnen nicht vergeben haben.

Schon werden in den USA Erinnerungen an die McCarthy-Ära Anfang der
fünfziger Jahre wach, als eine Art Gedankenpolizei in der
Künstler-Szene nach "unamerikanischen Umtrieben" fahndete.
Bürgerrechtsgruppen wie die American Civil Liberties Union bezeichnen
die Schnüffelpläne des Pentagon gar als "Orwellsches Programm", das
Electronic Freedom Forum nannte das TIA-Programm eine "gigantische
Verdachtsmaschine". Ein Mensch ist so lange unschuldig, bis seine
Schuld bewiesen ist - dieses Prinzip, befürchten beide
Organisationen, wäre vor dem Aus, sollte das Pentagon seine Pläne
wahr machen.

Europas Datenschützer schlagen Alarm

Die Schnüffelei der US-Regierung beschränkt sich zudem nicht auf die
USA. Denn ob die Schutzmechanismen der zweiten TIA-Version auch für
Ausländer gelten sollen, ließ das Pentagon offen.

In Brüssel sorgen Washingtons Pläne bereits für Alarmstimmung. "Wir
haben nichts gegen die Ziele der USA, aber ihre Mittel erscheinen
übertrieben und stehen im Widerspruch zu allen
EU-Datenschutzgesetzen", sagte der Vorsitzende der EU-Datenschützer,
Stefano Rodota. TIA ermögliche es den US-Behörden, alle Arten
elektronischer Kommunikation abzufangen. Die EU solle dies auf dem
Gipfeltreffen mit den USA im Juni ansprechen.

Die US-Regierung hatte die europäischen Datenschützer bereits mit dem
Sammeln persönlicher Daten aller USA-Reisenden verärgert. Der
EU-Kommission war die Meinung der Brüsseler Datenschützer jedoch
wenig wert: Sie gab der amerikanischen Forderung nach der
Daten-Freigabe nach. Ob die USA ihre Zusagen für die Verwendung der
Daten einhalten, meint Rodota, könne man nur hoffen.

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