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  • the observer

mehr als 1000 Beiträge seit 18.07.2001

...und Teil (3)

thelonious monk schrieb am 3. Januar 2007 17:18

> Mich interessiert an der Aufklärung die rationale Seite ehrlich
> gesagt schon und ich lebe ganz bestimmt nicht in einer
> geistdurchwirkten Welt der göttlichen Offenbarungen und
> Prophezeiungen, wobei natürlich der Geist auch eine Rolle in meinem
> Leben spielt. Der Punkt ist meiner Meinung nach, dass wir in vielem
> den Kontakt mit uns verloren haben, weil wir der Vernunft eine zu
> überragende Rolle in unserem Leben einräumen, den anderen Kräften
> dagegen zuwenig.

Die Auffassung halte ich für sehr bedenklich, vor allem angesichts
der Tatsache, daß Du Dir Zeit und Mühe nimmst, mit mir zu
diskutieren, anstatt einen eines Forentrolls würdigen unsachlichen
Kommentar abzusetzen. Du willst mit mir vernünftig diskutieren;
willst mich zum Nachdenken anregen, willst mich überzeugen...

Aber mal eine provozierende Frage: Wenn wir der Vernunft weniger
Platz in uns einräumen könnten als wir es Deiner Meinung nach tun -
was denkst Du, wird da in uns diesen freien Platz einräumen? Wenn wir
weniger vernünftig sein sollen, müssen wir mehr unvernünftig sein -
oder gibt es noch eine dritte Möglichkeit? Solltest Du möglicherweise
Empfindungen im Sinn haben? Instinkte? Dann darf ich Dich beruhigen:
Der Mensch wird auch weiterhin intuitiv und instinktiv handeln und
sich von Emotionen leiten lassen. Das, denke ich, ist zu tief in
unseren Genen verankert, denn es ließ uns überleben, weil in gewissen
Situationen keine Zeit für vernünftige Überlegungen ist. Auch die
Spiritualität - das als weiterer Trost - scheint für den Menschen
wichtig zu sein, ebenfalls biologisch bedingt und durch keine
Aufklärung zu verdrängen.

> Wir können gewisse Dinge mit der Ratio sehr gut
> regeln, andere dagegen überhaupt nicht.

So ist es. Aber nicht, indem wir gegenteilig handeln, sondern anders
(siehe oben).

> Wir kommen mit dieser Einseitigkeit gesellschaftlich in immer
> größeren Schwierigkeiten, Einsamkeit, Angst, Bindungsunfähigkeit und
> die Flucht in rosarote Welten sind die Folgen aus unserer
> Unfähigkeit, die wirklichen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.
> Wir leben mit diesem 'Ratio ist alles und Gott ab in den Mülleimer'
> ja weder glücklich noch besonders gesund.

Das tun wir eben nicht. Leider, denn handelten wir vernünftig, würden
wir nicht übereinander herfallen, schon gar nicht wegen
unterschiedlicher Glaubensauffassungen...

> Wir trennen vieles was Gut
> und Wichtig wäre von uns ab und machen uns lustig darüber, auf der
> anderen Seite gibt es immer wieder hilflose Versuche, das zu
> ersetzten, was wir uns vorher so mühsam abgewöhnt haben.

Vielleicht haben wir aber auch erkannt, daß manches eben nicht mehr
gut und wichtig ist für uns?

> Wir sind mit der Aufklärung imho in die eigenartige Situation
> gekommen, das wir unser Tiefstes und Innersten, also das was uns
> wirklich betrifft, nicht mehr wahrnehmen können, weil wir die Mittel
> dazu aus der Hand geworfen haben. Wir können nicht mehr an das
> Heilige im Sakrament der Eucharistie glauben, auf der anderen Seite
> haben wir meiner Meinung TROTZDEM noch das Bedürfnis, an etwas
> Ursprünglichem und Wahrem teilzuhaben.

Wenn Du so direkt argumentierst, antworte ich ebenso direkt: Wir
konnten das, was Du behauptest, noch nie! Jedenfalls ein Großteil der
Menschen auf dieser Erde. Alle beispielsweise, die in einer nicht
christlich geprägten Kultur aufwuchsen, und die mit dem Begriff der
Eucharistie nichts anfangen können. Du betrauerst einen Verlust;
andere vermissen nichts, da sie nicht gekannt haben.

> Wenn ich die Aufklärung auch manchmal mit bösen Worten kritisiere ist
> sie ja in sich nicht Böse oder Schlecht. Die Menschen haben Gutes aus
> ihr gezogen und am Ende halt den Fehler gemacht, denn sie immer
> machen: auf ein Podest stellen und verehren - oder vielleicht sehe
> das auch nur ich so...

Es sind immer die Menschen, die handeln, und wir sollten wirklich
nicht den Fehler machen, die Aufklärung zu verselbständigen und ihr
den Menschen als Widerpart gegenüberzustellen. Und die Menschen - das
sehe ich auch so - neigen dazu, in Zickzacklinien durch ihre
Geschichte zu rennen, bisweilen von einem Extrem ins ander zu fallen.
Dahinter steckt aber letztlich der große Wunsch nach Ordnung,
Orientierung und Geborgenheit. Vielleicht auch nach Einfachheit
angesichts der immer komplexer zutage tretenden Struktur unserer
Welt. Was ihnen die Wissenschaft freilich nicht bieten kann - die
Religionen aber sehr wohl.

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