Gast (16461) schrieb am 21.07.2019 16:13:
Der Körper, sein unabwendbarer Verfall und schließlich der Tod entziehen sich der Rationalität und der Texhnokeatie. Die Silicon Valley Nerds sublimieren ihre Angst davor und Ihre Ohnmacht mit feuchten technokratischen Träumen. Technologie ist ihr einziges Werkzeug, also kombinieren sie ihre religiöse (denn es ist Religion, diese Angst zu transzendieren) Angst mit Technologie. Angst essen Seele auf.
Die Angst vor dem unausweichlichen Tod ist immer und ohne Ausnahme die Angst eines ungelebten Lebens. Bei jungen Menschen, die ihr Leben noch nicht gelebt haben, die noch viel an Entwicklung und Erkenntnis vor sich haben, mag diese Angst ein wenig verständlicher sein: Wer möchte schon in der Blüte seines Lebens aus selbigem gerissen werden? An dieser Angst packen uns die Herrschenden Tag für Tag, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, und mit dieser Angst lenken und schubsen sie uns ständig in die von ihnen beabsichtigten Richtungen.
Wer dagegen ein erfülltes, abwechslungsreiches und aufrichtiges Leben geführt hat und darüber alt geworden ist, der hat wenig bis gar keine Angst vor dem Tod, denn er hat sein Leben gelebt und seine Möglichkeiten genutzt. Die Zeiten ändern sich während eines langen Lebens, so daß man, alt und wahrscheinlich auch gebrechlich geworden, nicht mehr so recht paßt, weil die Grund-Prägungen, denen man als junger Mensch ausgesetzt war, kaum aufgehoben werden können.
Menschen, die nicht sterben oder 10 Mal so lange leben wie gewöhnlich, würden dem Fortschritt und der Veränderung eher im Wege stehen und die evolutionäre Weiterentwicklung behindern. Zudem würde sich die Anzahl der Menschen so weit erhöhen, daß wir tatsächlich Probleme mit der Versorgung bekämen.
Man muß keine Angst vor dem Tod haben, wenn man erkannt hat, daß der bevorstehende Tod eher ein Freund als ein Feind ist. Für mich ist mein unausweichliches Sterben, das bereits vor Jahrzehnten begonnen hat, ein Antrieb, eine Motivation, mich zu engagieren. Damit meine ich vor allem, meinem Leben einen Sinn zu geben, und zwar nicht rein rational, sondern durch tätiges Streben und Tun, durch Erkenntnisgewinn, die am Ende vielleicht sogar in so etwas wie Weisheit münden. Gerade die Gewißheit, daß ich nicht ewig leben werde, um meine Ziele zu erreichen, spornt mich an, nicht nur mit diesen Zielen quasi selbstverliebt zu liebäugeln, sondern sie aktiv voranzutreiben. Die meisten Menschen, so mein Eindruck, machen das nicht, sie lassen sich leicht ablenken, verfolgen ihr Denken nicht konsequent und sind zudem der Ansicht, man müsse das Fühlen soweit wie nur möglich aus dem Leben heraushalten. Denken ohne Gefühl ist jedoch geistlos, ist wahres Maschinendenken, und genau das ist es, was z.B. Transhumanisten dazu verführt, sich einen unsterblichen maschinellen Körper zu wünschen.
Die rein kognitiven (rationalen) Funktionen des menschlichen Gehirns stellen eine Landkarte dessen dar, was wir erleben und sensitiv erfahren. Die Landkarte ist aber nicht das Gelände, auch wenn die meisten Menschen sich angewöhnt haben, diesen Unterschied kaum noch wahrzunehmen. Ohne Sensibilität – Sense, Sinn, Sinnesorgan, Empfinden – gibt es keine Wahrnehmung. Die Ratio stellt lediglich Ordnungs- und Archivierungsfunktionen dar, die auf Kategorien, Symbolen und deren Verknüpfungen basiert. Die Ratio ist somit nichts weiter als ein Werkzeug unserer Psyche; sie ist nicht die Psyche (früher sagte man Seele), sie ist eine Landkarte, auf der sich Symbole befinden, die wir zu verknüpfen und mit Bedeutung (Gefühl) zu belegen bzw. zu beleben gelernt haben. In unserer Gesellschaft (Kapitalismus) gilt Sensibilität jedoch weitgehend als Schwäche (du Sensibelchen, sei doch nicht so empfindlich!) und wird daher vermieden, wo es nur geht. Keine Maschine kann die Feinstruktur eines lebenden Organismus nachbilden. Nur wer mehr oder weniger entfremdet ist von seiner eigenen Gefühlswelt, von den alltäglichen Empfindungen, die er abzublocken und zu verdrängen gelernt hat, kann ein Menschenbild entwickeln, das mehr einer Maschine gleicht als dem Lebendigen ansich.
Kennzeichnend für die Situation des Menschen sind tiefreichende Widersprüche. Der wohl am tiefsten reichende ist der der Begrenztheit unserer Existenz, der letztlich seinen Ausdruck in der Unausweichlichkeit des Todes findet. Die Widersprüche haben ihren Grund in der Tatsache, dass wir bezüglich unserer gesamten physiologischen Organisation zwar Teil der tierischen Welt sind, doch gleichzeitig unabhängig von ihr. Wir gehören zu ihr, sind in ihr, und doch gehören wir nicht zu ihr. Uns sind Vernunft und Vorstellungsvermögen zu eigen, die es uns erlauben, ja die uns beinahe zwingen, uns unserer selbst gewahr zu werden als unterschiedene, eigene Wesen, und uns unseres eigenen unausweichlichen Endes, das das genaue Gegenteil des Lebens ist, bewusst zu sein. Wir müssen uns mit den Widersprüchen in unserer Existenz auseinandersetzen und unserem Leben selbst einen Sinn geben. Es ist uns unmöglich, nur zu leben, zu essen und zu trinken, ohne dem Leben einen Sinn zu geben. Wir müssen immer eine Antwort auf das Problem des Lebens geben, und zwar sowohl theoretisch wie auch praktisch. Damit meine ich, dass wir einen Bezugsrahmen benötigen, an dem wir uns in unserem Leben orientieren können, so dass der Prozess des Lebens und unsere Position in ihm irgendwie wahrnehmbar und bedeutsam wird. Wenn wir nicht verrückt sind und wenn wir nicht das Wissen um die Probleme unserer Existenz verdrängen, indem wir zwanghaft einem Fluchtweg folgen – was manchen Menschen gelingt, und zwar zum Teil sehr umfassend –, dann müssen wir uns mit der Frage der Bedeutung unseres Lebens befassen; dazu benötigen wir einen Bezugs- und Orientierungsrahmen, der uns Sinn gibt. Es geht dabei nicht nur um einen intellektuellen Rahmen; vielmehr benötigen wir auch als Ordnungsprinzip ein Objekt der Hingabe, für das wir unsere Energien hingeben können über das hinaus, was wir für Produktion und Reproduktion brauchen.
Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität
https://tinyurl.com/y5qnfu2k (Seite 23)