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  • roko

mehr als 1000 Beiträge seit 10.05.2001

Re: meine pessimistische Einschätzung

Levski schrieb am 29.03.2017 14:41:

Wir kennen uns in Forum schon etwas länger und über Bulgarien kann ich Dir kaum etwas erzählen. Und was, das kennst Du schon.

Nicht ganz, du bist eine meiner wertvollsten Quellen über Bulgarien. Das ist kein Scherz und danke dafür! Meine anderen Quellen haben einen anderen Hintergrund und da ist eine Diversity der Meinungen einfach besser.

Trotzdem will ich Deiner pessimistischen Einschätzung noch etwas hinzu fügen, für die die mitlesen.

Ich muss zugeben, dass meine pessimistische Einschätzung zum größten Teil auf Informationen basiert, die ich in den letzten (fast) 20 Jahren aus Personen (hauptsächlich Bulgaren) bekommen habe, die entweder Bulgarien verlassen haben und dort nur Urlaub machen (da ist der Kontrast zum neuen Wohnort im Westen natürlich groß), oder die mich in Deutschland besuchen und darüber klagen, wie schlecht es ihnen in Bulgarien geht. Letzteres könnte natürlich übertrieben bzw. eigennützig sein, nach dem Motto "Hilf mir, da es mir schlecht geht".

Gemessen an den Hoffnungen nach 1989

Die waren tatsächlich zu hoch. Ich war in Juni 1990 selbst in Sofia auf dieser Riesendemo mit 1 Mio. Menschen am/um den Orlov Most. Die Stimmung war super, keine Frage, aber schon damals war es klar, dass es den Bulgaren hauptsächlich um die Zerstörung des alten Systems ging und weniger um den Aufbau eines neuen Systems.

So ging es dann die nächsten Jahre weiter. Die Ex-Kommunisten wollten den Zerstörungsprozess aufhalten und steuern, damit sie möglichst viel davon profitieren können, und die "Demokraten" (SDS) hätten am liebsten alles sofort in die Luft gejagt. Volen Siderov war übrigens damals einer der eifrigsten "Demokraten".

Beide waren also am Zerstören beteiligt, aber Keiner hatte ein Konzept, wie und was Neues man im armen Agrarland Bulgarien aufbauen kann. Als dann im Züge der Reformen auch die Landwirtschaft zerstört wurde, blieb von der einstigen (vor)kommunistischen Substanz nichts übrig. Ab da galt nur das Prinzip Hoffnung (von außen, vom Himmel oder woher auch immer).

Ich bin etwa so lange im Land, wie Du weg bist, seit Mitte der 90er Jahre. Und habe als Wessie lange gebraucht um zu verstehen und bin immer noch ziemlich am Anfang.

Naja, für ein Wessie bist du beim Bulgarien-Verstehen ziemlich weit gekommen. Es ist zwar eine lange Lehrzeit, aber die meisten Ausländer können auch nach so viel Zeit nichts mit Bulgarien anfangen. Hängt sicherlich vom Umfeld ab.

mit der Bemerkung "Bulgarien ist ein verlorenes Land" kann man auch falsche Vorurteile bestätigen.

Ich meine das eher aus der Sicht der Bulgaren selbst. Die stimmen doch selbst darüber ab:
1. niedrige Wahlbeteiligung, da Viele nicht glauben, dass sich etwas ändern wird, und
2. mit den Füßen Richtung Westen.
Wenn man 1 und 2 zusammenzählt, kann Einem die Entwicklung in Bulgarien definitiv keine Hoffnung machen.

Was mir gefällt: Die Schönheit und Vielfalt der Natur. Der, im Verhältnis zu Deutschland, freie Geist der Menschen (diese Einschätzung wird immer wieder schwer auf die Probe gestellt, wenn ich hier Auto fahre). Die Fähigkeit auch mit Wenigem klar zu kommen und die Solidarität, die es, zumindest auf dem Lande, immer noch gibt.

Da stimme ich dir voll zu. Es gibt auch schöne Sachen in Bulgarien, aber die können sich irgendwie nicht entfalten. Die Natur wurde den Bulgaren "vom Gott gegeben", aber in den letzten 25 Jahren ist man eher an deren Zerstörung (zwecks Profit) beteiligt als an deren Erhalt. Die Grünen (Zelenite) waren in den 1980er Jahre die erste Oppositionsbewegung, inzwischen spielen sie aber im politischen Leben kaum eine Rolle.

Und der von dir bewunderte Menschenschlag auf dem Lande ist vom Aussterben bedroht. Die Jungen zieht es Richtung Städte, wo sie "versaut" werden, oder gleich gen Westen und die Alten werden irgendwann nicht mehr da sein.

Der Tourismus entwickelt sich langsam, aber immerhin. Und jenseits von Sonnenstrand machen das auch normale Menschen und Kleinbetriebe. Es gibt einen Bergtourismus

Leider hat sich der Tourismus nach der Wende in die völlig falsche Richtung entwickelt. Bulgarien hätte eine Riesenchance im ökologischen dezentralisierten Tourismus gehabt, sowohl am Schwarzen Meer als auch in den Bergen. Stattdessen ging die Entwicklung Richtung Massentourismus und da ist Bulgarien ein Standort unter vielen und kann z. B. mit der Türkei kaum konkurrieren.

Es gab schon vor der Wende den Club-Med-Resort Roussalka im Norden der Schwarzmeerküste (http://www.bulgarienreise.com/html/russalka.html). So etwas hätte man tausendfach am Meer und in den Bergen bauen sollen, eingebettet in wunderschöner Natur und beliefert aus ökologisch wirtschaftenden Betrieben in der Nähe. Das hätte beide größten Stärken des Standorts Bulgarien vereint und Arbeitsplätze erhalten bzw. geschaffen.

Und dann der Wein.

Ja, der Wein gehört natürlich auch dazu. Ebenso der Schnaps (Rakija).

wenn ich mir das politische Bewusstsein der "Eliten" im Zentrum Europas anschaue, liegt meine europäische Hoffnung eher auf Ländern wie Bulgarien, Ungarn, Österreich und Griechenland.

Stimme teilweise zu (Ungarn, Österreich). Griechenland ist genauso wie Bulgarien zu sehr osmanisch geschädigt. 400-500 Jahre osmanische Herrschaft haben tiefe Spuren in der Mentalität hinterlassen. Die tiefste Spur ist aber die Ausrede "uns geht es ja nur so schlecht, weil wir so lange Zeit von den Türken unterdrückt wurden". Dazu kommt "davor ging uns ja gut (die alten Griechen, Alexander, die mächtigen I. und II. bulgarische Reiche), aber wegen den Türken konnten wir uns nicht weiterentwickeln". Das alles stimmt, ist aber gleichzeitig das Problem dieser Länder. Die sind rückwärtsgewandt und (zu Recht) stolz auf ihre Geschichte, während die Gegenwart vorbei zieht und eine Vision (für die Zukunft) völlig fehlt.

lg,
roko

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (29.03.2017 19:48).

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