the ghost and the darkness schrieb am 10.11.2024 11:59:
Guckstu schrieb am 09.11.2024 12:53:
Die Frontverschiebungen kann man getrost ignorieren, solange die defensive Seite noch Rückzugsraum hat, und der geht ja weder der Ukraine noch Russland aus.
nein, die kann man nicht ignorieren. Das oberste Ziel der Ukraine ist seit Anfang an, die besetzten Gebiete zurück zu erobern.
Das ist das strategische Ziel.
Dafür kann man auch problemlos taktische Ziele aufgeben und sogar tausende Kilometer zurückweichen.
Herrje, gerade als Deutscher solltest du doch wissen, dass genau das im 2. Weltkrieg geschehen ist. Die SU hat gigantische Gebiete verloren, aber das hat dem 3. Reich einen Scheißdreck genutzt, als ihnen die Kraft ausgegangen ist, da sind sie dann gnadenlos zurückgedrängt worden und hatten an allen Fronten zuwenig Material, um die Russen aufzuhalten, da gab es nur noch Hinhaltegefechte und in zwei Jahren standen die Russen vor Berlin.
Schwächt der Abnutzungskrieg die russische Front, kann das Gelände binnen Monaten zurückerobert werden.
Außerdem hat man die rund 2 Jahre mehr oder weniger ffeststehende Front massiv mit Stellungen ausgebaut. Die Frontverschiebungen zurück bewirken, dass man diese Stellungen aufgeben muss und weiter hinten gibt es keine Neuen in der Qualität und Anzahl.
Die kann die Ukraine rechtzeitig bauen. Wenn die Russen vier Wochen brauchen, um zwei Kilometer vorzurücken, ist das reichlich Zeit.
Nicht für perfekte Qualität, aber es geht im Abnutzungskrieg nicht um Perfektion, sondern darum, dem Gegner mehr Verluste zuzufügen, als er dauerhaft auffüllen kann, ohne gleichzeitig ähnlich viele Verluste zu erleiden.
Beide Seiten tun sich etwas schwer, ihre Personalverluste auszugleichen, aber Russland kann die Materialverluste nicht mehr beliebig lange ausgleichen, bei der Ukraine hängt es ausschließlich an der Westunterstützung und ob dort die Produktion rechtzeitig hochgefahren wird (Artilleriegranaten sind wohl mittlerweile OK, jetzt braucht es Luftabwehr und Flugzeuge, Panzer und Truppentransporter sind wohl auch noch so-so, la-la).
Strategisch ergibt das alles Null Sinn für die Ukraine, außer wenn das Ziel ist, den Gegner so weit auszudünnen, dass er aufgeben muss, weil er keine Kämpfer mehr hat, um dann viel schneller wieder selber vorrücken zu können.
Genau das.
Die tollsten Verteidigungsstellungen nützen nichts, wenn dahinter keine Truppen sind.
Dann werden Minenfelder einfach geräumt, gegen Panzersperren und Gräben helfen einfache Bulldozer.
Nur erstens hat Russland von Anfang an 5 mal mehr Einwohner, sodass so eine Strategie einfach sacheitern muss und von Anfang an gar kein Ziel sein kann.
Du stellst die falsche Frage.
Russland hat beim Rekrutierungspool klar einen Vorteil, aber das ist gar nicht der wichtigste Punkt.
Der ist, wie viele Menschen Russland daraus rekrutieren kann und will.
Es kann nicht so einfach, weil es dafür Ausbilder braucht. Die hat Russland allerdings viel an der Front eingesetzt und verloren.
(N.B. Russland hat auch Eliteeinheiten in Massenschlachten wie Bachmut aufgerieben. Das war eine ziemliche Verschwendung, weil Eliteeinheiten in einer Massenschlacht ihre besonderen Fähigkeiten gar nicht einsetzen können, ein Elitesoldat stirbt im Kugelhagel fast genau so schnell wie ein blutiger Anfänger; den Elitesoldaten willst du eigentlich im Grabenkampf einsetzen.)
Und es will nicht, weil es die Menschen in den Rüstungsfabriken genau so dringend braucht wie an der Front; Menschenmassen an der Front nützen nix, wenn die mit Holzstöcken kämpfen müssen, weil es nicht genug Gewehre gibt, oder wenn sie zu Fuß durchs Abwehrfeuer müssen, weil es nicht genügend Mannschaftstransporter gibt. Und da Russland vom Weltmarkt weitgehend abgeschnitten ist, kann es diese Sachen nicht im Ausland kaufen, sondern muss die Menschen in den eigenen Fabriken einsetzen statt an der Front.
Und zweitens entspricht das auch nicht der Realität, denn viele urkainische, als eigene parteiische Frontberichterstatter berichten schon mehrfach und in immer größerer Frequenz, dass an Frontabschnitten die ukrainische Mannstärke der russischen teils deutlich unterlegen ist.
Ja, die Ukraine hat mit Einberufungen etwas zu lange gezögert.
Sie haben sich jetzt aber entschlossen, das zu ändern.
Auch die Ukraine braucht für ihre Soldaten Ausrüstung.
Im Gegensatz zu Russland kann die Ukraine das nötige Zeug einkaufen, so dass sie einen erheblich größeren Prozentsatz ihres Rekrutierungspools auch einsetzen kann.
Wobei das mit dem Einkaufen natürlich auch an Grenzen stößt.
Die Unterstützer versprechen immer wieder Milliarden, aber das Geld kommt nur schubweise und nicht planbar an. Das macht es der Ukraine deutlich schwerer, kohärente Pläne zu entwickeln, sie müssen permanent improvisieren, und das macht ihre Lage schwieriger.
Das alles sind Indizien dafür, dass die aktuellen Frontverscheibungen kein Zeichen von siegreicher ukrainischer Strategie sind, sondern großen ukrainischen Problemen und russischer Überlegenheit an diesen Frontabschnitten.
Es haben immer beide Seiten Probleme.
Die russischen erfahren wir nur seltener.
Und die Frontverschiebungen bedeuten viel weniger, als die Leute meinen. Solange die Russen nicht so weit durchbrechen, dass sie Fronten von der Seite her aufrollen können, ist das alles völlig in Ordnung.
Bisher gab es einen einzigen Frontzusammenbruch bei Pokrowsk, aber der wurde rasch wieder aufgefangen.
Das hat operativ nicht mehr Bedeutung als die Landgewinne bei Kursk, wo ja das gleiche stattgefunden hat, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Bei all diesen Ereignissen zählen nicht die Quadratkilometer, sondern nur die Frage, welche Seite dabei die größeren Verluste hatte. Prozentual im Verhältnis zum Nachschub, die absoluten Zahlen sind belanglos.