kemmerich schrieb am 05.10.2023 20:23:
Zusammengefasst: Weil bislang nichts passiert ist, wird auch weiterhin nichts passieren.
Vermutlich, ja.
Die Russen "gewöhnen" sich schon irgendwie an eine höhere Schlagzahl,
Die Schlagzahl steigt ja nicht.
Die Russen werden ja ziemlich langsam zurückgedrängt.
und vielleicht merken sie's gar nicht, wenn sie kurz vor der Niederlage stehen.
Was wäre denn "Niederlage" überhaupt?
Ein Einmarsch in Russland selbst steht ja gar nicht zur Debatte.
Die Rückeroberung des ukrainischen Staatsgebiets wird ja mühselig genug, da hat eigentlich niemand Lust, die Russen mit mehr Landnahme zu provozieren.
Letztlich bleibt es sowieso abzuwarten, was dann geschieht.
Kann sein, die Russen geben auf.
Kann sein, die Russen führen immer weiter Krieg an der Grenze.
Kann sein, Putin stürzt und der Nachfolger hat keinen Bock auf noch mehr Krieg.
Kann sein, Putin stürzt und der Nachfolger will immer noch Krieg.
Kann sein, das russische Volk kriegt doch noch den Arsch hoch und verweigert weitere Einberufungen für einen Krieg, den sie sinnlos finden.
Kann sein, die Sanktionen machen den Russen das Leben so schwer, dass Putin darüber stürzt.
Kann sein, die Russen finden Wege, mit den Sanktionen zu leben.
Kann sein, die Ukrainer rekrutieren in richtig großem Stil Attentäter und Saboteure in Russland, bis die Russen meinen, es geht so nicht weiter - was entweder Panikreaktionen oder Friedensverhandlungen bedeuten würde.
Lässt sich nicht abschätzen.
Aber bis zur Rückeroberung von Krim und Donbass sind wir eigentlich in ziemlich sicheren Gewässern, nichts davon ist für Russland wirklich unverzichtbar.
Die Krim ist gerade bitter genug, dass sie Putin stürzen könnte, aber nicht russisches Staatsgebiet genug, dass sie dafür bis zum Äußersten gehen würden.
Danach... mal gucken, wie die Russen auf den Verlust der Krim reagieren.
Ob sie umso mehr im Donbass Druck machen oder weniger.
Die Krim zu halten wäre für die Ukraine natürlich auch die Beherrschung des Schwarzen Meers, die russische Flotte würde relativ nutzlos. Allein das ändert schon die russischen Möglichkeiten zur Kriegführung so massiv, dass man schauen muss, was die Russen draus machen.
Und dann kommt die Niederlage, und dann tun sie auch nichts, sondern gehen nach Hause und weinen sich dort aus.
Die Alternative wären halt Atombomben und ein zerstörtes Russland.
Darauf hat auch Putin keine Lust, wie's aussieht, sonst hätte er ja längst Kiews bombardiert.
Angenommen, das wäre eine realistische Perspektive. Dann wäre zwar verständlich, warum die NATO nicht all in geht - man will den Frosch ja langsam kochen - aber nicht, warum man Scholz dauernd vorwirft, zu zögern. Er folgt ja genau deiner Denke, immer schööööön langsam die Temperatur zu erhöhen. So what?
Er ist viel langsamer als nötig.
Meiner Ansicht nach ist die erste echte rote Linie die Einnahme von russischem Staatsgebiet, vorher tut Putin nichts Unbesonnenes; und es wird selbst mit maximaler Unterstützung eine ganze Weile dauern, bis die Ukraine ihr Staatsgebiet zurückhat.
Und es ändert auch nichts, wie schnell die Ukraine das macht, Putin weiß ja, dass das als ukrainisches Kriegsziel verkündet ist, tut alles, um es zu verhindern, und wenn er dann davor steht, dass er es nicht hat verhindern können, wird er sich sehr ärgern, aber er hat ja immer noch sein Russland.
Zweitens finde ich deine Logik reichlich schräg. Aus der Tatsache, dass trotz ständiger Erhöhung des Drucks die große Eskalation bis hin zu ABC-Waffen bislang ausgeblieben ist, kann man nicht schließen, dass sie bei weiterer Druckerhöhung weiterhin ausbleibt. Das wäre ja so, als würde man einen Luftballon immer weiter aufblasen und aus der Tatsache, dass er bislang nicht geplatzt ist, schließen, dass man unendlich viel Luft einfüllen kann, ohne dass er platzt.
Staaten sind keine Luftballons.
Woher willst du wissen, dass deine Analogie zutrifft? Du müsstest das anhand von der Psychologie Putins und seiner Unterstützer nachzeichnen, und dann brauchst du die Analogie gar nicht mehr.
Der andere Punkt ist natürlich: Wenn du vor Russland kuschst, weil sie Atomwaffen haben, werden sie das immer und immer wieder nutzen, um dich zu erpressen, bis du dich plötzlich im neuen Oblast Westdeutschland wiederfindest.
Nein. Der neue eiserne Vorhang steht, und da gibt es eine ganz ganz eindeutige Linie.
Woher willst du das wissen?
Putins Propagandisten haben schon verkündet, dass das ganze Warschauer-Pakt-Gebiet in die russische Hegemonie gehört.
Wenn die Schulbücher jetzt verkünden, dass die DDR "widerrechtlich" und "nicht demokratisch legitimiert" an die BRD "angeschlossen" wurde (was alles schlicht dummer Quatsch ist), dann heißt das, er will auch die DDR zurück.
Und wenn er das kriegt, weiß er, die Rest-EU ist schwach und er kann mit ihr Schlitten fahren, wie er das will - was sollte ihn daran hindern, sich den Rest bis nach Portugal auch noch zu krallen?
Es flottieren ja auch die Ideen, dass die russische Kultur ein großer Gewinn für die Völker sei.
Daraus lässt sich jederzeit ein Grund für einen weiteren Überfall ableiten. Es gibt da eigentlich keine Grenze, die sich der russische Imperialismus da setzt, die Grenzen werden sogar jedes Jahr ein bisschen weiter gezogen.
Ist das realistisch, dass Russland sich ganz Europa einverleibt, wenn es das kann?
Ich würd's 50:50 einschätzen.
Auch so ein Risiko, das man eigentlich nicht verantworten kann. Wie schon erwähnt, allein die drastisch schlechtere medizinische Versorgung würde jede Menge Menschen töten. Meine Frau wäre recht früh dran, die würde wohl keine Blutzuckermessgeräte und auch kein Insulin mehr kriegen, oder jedenfalls nicht genügend und rechtzeitig. Wir müssten also möglichst rasch emigrieren, aber du kannst dir lebhaft vorstellen, was die potenziellen Aufnahmeländer dazu sagen, wenn plötzlich die Flüchtlingswellen aus Europa anrollen...
Sicher: Wird sie überschritten, knallt's, und alles ist vorbei, für alle. Das will keine Seite, und das macht auch niemand.
Eben.
Bei der Ukraine ist die Ausgangslage aber eine andere. Sie war kein NATO-Mitglied, als der Krieg ausbrach, und jetzt tobt dort der Krieg; er muss nicht, kann aber eskalieren.
Sie wollte allerdings ganz, ganz dringend und eilig in die NATO rein.
Hätte Merkel damals nicht Nein gesagt, wäre die Ukraine wahrscheinlich schon mitten im Aufnahmeprozess und die Russen hätten sich keinen Angriff mehr getraut (sondern vielmehr auf Subversion gesetzt).
Wobei im Wort "Eskalation" bereits das eigentlich Problem steckt: Russland wird wohl kaum nach reiflicher Überlegung die Zeit für gekommen halten, eine Atombombe zu werfen. Es kann aber durchaus passieren, dass aus dem heißen Krieg heraus das ganze Ding außer Kontrolle gerät und Atompilze aufsteigen, obwohl das eigentlich keiner wollte.
Das hängt von zwei Dingen ab.
Erstens muss sich Putin so sehr aufregen, dass er irgendwann aus Kurzschlussüberlegungen Atombomben wirft. Angesichts dessen, dass er auch schon mal seine Untergebenen stundenlang anbrüllt, wenn sie ihn enttäuschen, wär das durchaus denkbar.
ABER zweitens müssen seine Militärs diese Befehle auch ausführen. Das ist schon deutlich weniger wahrscheinlich, die wissen ja genau so gut wie Putin, was ein strategischer Atomkrieg für sie bedeutet. Und das russische Militär ist nicht so diszipliniert wie das der UdSSR, es gibt dort jetzt Fraktionen und Leute mit eigenen Ambitionen, also welche, die mehr tun als nur Befehle auszuführen und gelegentlich auch mal unabhängige Gedanken haben (sie aber nicht äußern).
Dies ist eine reale Gefahr, die man für gering halten kann. Nur bemisst sich das Risiko nicht allein an der Wahrscheinlichkeit eines Schadens, sondern maßgeblich auch an dessen Folgen, falls er eintritt.
Das ist schon richtig.
Aber wenn man sich von der bloßen Androhung eines totalen Schadens schon beeindrucken lässt, macht man sich erpressbar und gibt dem Gegner am Ende alles, was er will, selbst das, was man eigentlich auf keinen Fall hergeben wollte.
Kann man sich drauf einlassen, das Risiko ist halt, dass jeder von uns 20 Jahre Lebenserwartung einbüßt. (Bzw. weniger für die alten Knacker unter uns, aber die Lebensqualität wird trotzdem gewaltig abnehmen. Eigentlich mag ich unter einen russischen Regime gar nicht unbedingt viel Lebenserwartung haben, das würde nur unerfreulich.)