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Avatar von benu13
  • benu13

521 Beiträge seit 10.06.2015

Re: Chapeau - diese beiden Sätze bringen es auf den Punkt

Danke für den ausführlichen Beitrag, auf den ich ähnlich ausführlich antworten möchte. Dabei will ich mich auf deine wesentlichen Aussagen beziehen.

Machen wir uns doch nichts vor: Herrschaftssysteme existieren überall auf der Welt, und dazu gehört nun einmal eine gewisse Kontrolle der Medien.
Vieles, was du schreibst sind Vermutungen, da du - so nehme ich an - nur rudimentär über die Verhältnisse in Russland informiert bist. Auch stellt sich die Frage, woher du deine Informationen beziehst. Ich selbst maße mir nicht an, ähnlich steile Thesen aufzustellen, weil ich eingestehe, dass mein Hintergrundwissen unzureichend ist. Berichte über die Lage in Russland, die ich u.a. aus beiden Richtungen beziehe, sehe ich kritischer als du, da ich davon ausgehe, dass sie meist mit einer politische Botschaft durchsetzt sind.
Dass seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und wohl auch Einschüchterungen in Russland zugenommen haben, trifft mit Sicherheit zu. Diese beruhen auf den Bemühungen der Führung, patriotische Gefühle zu wecken und weitgehende Akzeptanz für die militärischen Handlungen in der Ukraine zu gelangen. Kritik aus der „falschen Richtung“ wäre dabei störend. Dasselbe ist natürlich auch in der Ukraine zu beobachten. Dort geht man noch weiter, u.a. wurden 11 Parteien verboten, Wahlen ausgesetzt und die Fernsehberichterstattung unter direkte Kontrolle gestellt.

Wie verlässliche Quellen aus Russland nahelegen, hat sich die in den 90er Jahren einsetzende Westorientierung besonders in Intellektuellen- und Künstlerkreisen seit 2022 in drei Richtungen entladen: 1. Emigration, 2. Erfasstsein von der patriotischen Welle und 3. Abschied von jeglichem politischen Engagement. Eine ernstzunehmende westlich orientierte Opposition gibt es daher in Russland aktuell nicht. Diese Beobachtung legt nahe, dass der Kreml - anders als während der Sowjetherrschaft - nicht genötigt ist, die Bürger übermäßig zu drangsalieren. Einzelfälle gibt es sicherlich. Würde es sich um eine Massenerscheinung handeln, dann hätten die westlichen Medien darüber mit Sicherheit berichtet.
Dass im Westen allgemein Meinungsunterschiede in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, wie du behauptest, gilt kaum für den Ukrainekonflikt. Natürlich berichten die Mainstream-Medien über die russische Position zum Ukrainekonflikt, jedoch selektiv und in abfälligem Ton. Dasselbe macht man in Moskau mit dem westlichen Standpunkt. Und ebenso wie in Russland werden Personen, die die hiesigen Narrative nicht teilen, ausgegrenzt und drangsaliert.
So haben jahrelang anerkannte Journalisten wie Dirk Pohlmann und Patrick Baab ihre Beschäftigung bei den Fernsehanstalten verloren. Ferner werden sie öffentlich diffamiert und mit Arbeits- und Auftrittsverboten belegt. Ebenso glänzen früher häufig in Talkshows erschienene Experten wie Harald Kujat, Gabriele Krone-Schmalz und Ulrike Guerot heute durch Abwesenheit. Wie in Russland geht es natürlich auch bei uns darum, die Stimmung der Öffentlichkeit in die gewünschte Richtung zu lenken. Wer Böses denkt, könnte daraus schlussfolgern, dass wir im Ukrainekonflikt Kriegspartei sind.
Vielleicht wendest du jetzt ein, dass es im Westen kritische Publikationen wie „Telepolis“ gibt. Solche gibt es aber auch in Russland, wobei sie dort wie bei uns ein Nischendasein führen.

Letztlich geht es doch um die Frage, wer seinen Bürgern besser die eigene Politik „verkaufen“ kann. Und hier kann die russische Seite überzeugender Begründungen für ihre Position liefern, wenn sie behauptet, vom kollektiven Westen bedroht zu werden, wobei die Ukraine als Speerspitze fungiert. Die westliche Gegenposition, der Angriff auf die Ukraine würde auf imperialistischen Motiven Putins beruhen, erscheint dagegen hierzulande weniger überzeugend – zumal offen bleibt, ob Putin sich plötzlich dazu bekennt oder solche Ansichten bereits seit Jahrzehnten hatte und geschickt verbergen konnte. Vielen sind die historischen Hintergründe bekannt, u.a. der Bruch westlicher Zusagen einer Nicht-Ausbreitung der NATO und des Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit. Ebenso erinnern sich die meisten daran, dass der US-geführte Westen nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems mehrere Kriege zur Sicherung seines Einflusses begonnen hat, was er als sein Privileg betrachtete.

Noch ein paar Worte zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in die Russland mittels der Sanktionen gestürzt werden sollte. Meines Erachtens war der Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 von russischer Seite wohl durchdacht und lange vorbereitet (im Gegensatz zu manchen Behauptungen aus Moskau). Dies gilt besonders hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen. Möglicherweise hat man in Russland nicht erwartet, dass der Westen und insbesondere die EU-Staaten ein derart großes Risiko eingehen, das ihren Volkswirtschaften erkennbar mehr geschadet hat als der russischen.
Ausschlaggebend für die russische Kriegsentscheidung ist die Unterstützung Chinas, das sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch erheblich profitiert. Ebenso dürfte abgesichert worden sein, wie sich andere Staaten des globalen Südens positionieren.
Zwar hörte man wiederholt Verweise auf die Leidensfähigkeit der russischen Bürger angesichts historischer Erfahrungen, jedoch erscheinen die „Verwendung“ dieses Aspekts bislang unnötig, da die Umstellung auf neue Handelspartner ohne größere Entbehrungen verlaufen ist. Zweifellos stellt die erhöhte Produktion militärischer Güter eine volkswirtschaftliche Belastung dar. Ebenso dürfte es noch einige Zeit Engpässe bei der Versorgung mit Ersatzteilen und anderen wichtigen Komponenten geben. Andererseits wird in Russland von einer „Aufbruchsstimmung“ berichtet, nachdem viele westliche Unternehmen in russische Hand gelangt sind.
Deine Ausführungen machen - entschuldige bitte - den Eindruck, dass dein Blick auf die russische Wirtschaft recht oberflächlich ist und nicht gerade von Sachverstand zeugt. Was du schreibst, sind größtenteils Spekulationen, hinter denen sich augenscheinlich der Versuch verbirgt, die These von Rissen in der russischen Gesellschaft zu belegen.

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