Natürlich steht es schlimm um die Ukraine - es war angesichts der Kräfteverhältnisse auch nie etwas anderes zu erwarten. Überraschend ist eher, dass die Ukraine angesichts von mehr als 500.000 russischen Soldaten im Land die auf nahezu unerschöpflichen Ressourcen an Waffen und Munition zurückgreifen können, nach mehr als zwei Jahren überhaupt noch zu einer geordneten Verteidigung in der Lage ist.
Die Frage ist doch: Was hat Russland eigentlich davon, wenn es schlimm um die Ukraine steht? Das soll doch alles mal Russland werden... Der Grund der Invasion war ja, dass Russland seinen Einfluss in der Ukraine verloren hat und die Ukraine sich dem Westen zuwandte. Das wurde durch Wahlen mehrfach bestätigt. Ich bezweifle, dass Russland seitdem nennenswert Anhänger dazugewinnen konnte.
Selbst wenn Russland jetzt militärisch schnell erfolgreich sein sollte (was nicht sehr wahrscheinlich ist), dann steht es ungefähr dort, wo die USA im Irak nach 6 Wochen standen. Genutzt hat es wenig - heute können die USA nicht mal einen iranischen General im Irak verhaften lassen, sondern können ihn nur mit einem fragwürdigen Drohnenangriff töten. Also auch nicht anders als im von Taliban regierten Afghanistan. Vor allem ist der Einfluss des Iran im Irak größer geworden, was sicherlich nicht im Sinne der USA ist.
Wie Moskau die Eroberung von menschenleeren Ruinen im Osten der Ukraine in einen politischen Erfolg ummünzen will, steht völlig in den Sternen. Einstweilen hat es nur seine Gegner geeint und gestärkt (z.B. NATO-Norderweiterung). Eines steht so gut wie fest: eine offizielle Anerkennung der Gebietsgewinne wird es nicht geben. Auch keine Konferenz "auf Augenhöhe" mit den USA oder NATO, wo Putin sich mit dem POTUS über Landkarten beugt und Grenzen neu festlegt und über "Garantien" verhandelt. Ich schätze, dass es dabei bleiben wird, dass im Westen kaum jemand mit Putin reden will.
Genau dafür steht die aktuelle Schweizer Friedenskonferenz: der Anspruch auf Rückgabe und Reparationen, die Verfolgung der Kriegsverbrechen, die Sanktionen - all das wird auch nach einem russischen "Sieg" fortbestehen. Russland wird in der Ukraine, wie einst die Sowjetunion im Baltikum, für absehbare Zeit eine fremde Besatzungsmacht bleiben, die beim ersten Zeichen der Schwäche wieder aus dem Land komplementiert wird. Die kollektive Erfahrung der Ukrainer von Krieg, Flucht, Vertreibung - all das wird noch da sein, wenn auf russischer Seite über die wenig glanzvolle und verlustreiche Eroberung von zerschossenen Siedlungen längst der Mantel des Schweigens gebreitet wird, so wie über die weitgehend vergessenen Tschetschenienkriege. Besatzungsmächte werden in der Regel nicht geliebt.
Den Wiederaufbau der eroberten Gebiete wird Russland ganz alleine stemmen müssen. Je mehr es erobert, desto teurer wird das.
"Was man mit Gewalt gewinnt, kann man nur mit Gewalt behalten" (M. Gandhi)
Nur zur Erinnerung: Die Sowjetunion hat den Rückzug aus dem besetzten Baltikum nicht lange überlebt. Der Verlust der besetzen Gebiete mitten in einer schweren inneren Krise setzte eine Dynamik in Gang, die nicht mehr gestoppt werden konnte.