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  • Pearphidae

mehr als 1000 Beiträge seit 14.11.2021

Re: Die träumen doch alle.

Stephan Geue schrieb am 16.10.2024 10:38:

Und die, die sich in diesem Beitrag zu Wort gemeldet haben, sind allesamt nicht persönlich betroffen. Die haben sich im Schlaf lediglich mal auf die andere Seite gewälzt.

Russland hat gesagt - man korrigiere mich, wenn ich falsch liege:

- die vier bereits "eingemeindeten" Gebiete, über die Russland faktisch noch bei weitem nicht die volle militärische Kontrolle hat, seien nicht verhandelbar als fester Bestandteil Russlands. Das fangen die Ukraine und der Westen gerade erst an zu schlucken.

- die Option NATO-Mitgliedschaft der (Rest-)Ukraine müsse aus allen Papieren und Verlautbarungen gestrichen werden. Das haben die Ukraine und der Westen noch nicht einmal wahrnehmbar zur Kenntnis genommen, von einer keimenden Akzeptanz gar nicht zu reden. Das Einzige, was man dazu aus dem Westen hört - und selbst dazu gibt es keinen Konsens, wenn man etwa auf das Baltikum blickt -, ist, dass die Ukraine nicht während des Konflikts in das Bündnis aufgenommen werden könne.

- die (Rest-)Ukraine müsse weitgehend entmilitarisiert werden. Dafür gilt dasselbe, auch wenn das für die Ukraine faktisch sogar ein großer Vorteil wäre, denn ein entmilitarisiertes Land hat keine Rüstungskosten, und für Russlands Staatshaushalt und damit für das gesamte Land stellen solche Kosten eine beträchtliche Belastung dar, und - ganz wichtig - das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Der Westen wird wahrscheinlich dagegen argumentieren, dass das Land dann schutzlos sei, was sicherlich weitgehend stimmt. Aber jetzt ist es nicht schutzlos und sieht sich trotzdem der absoluten Katastrophe ausgesetzt.

- die (Rest-)Ukraine müsse entnazifiziert werden. Nun ja, das wird nicht gelingen. Denn erstens ist es eine Frage der Definition, wer ein Nazi ist. Der Westen sieht ja keine in der Ukraine. Da können noch so viele Symbole auf Uniformen genäht und auf Häute tätowiert worden sein, und die Haltung gegenüber anderen Völkern kann noch so krass sein. Nein, nein, das bedeutet nicht, dass alle anderen Länder nur Engel hätten, aber wenn wir "Westen" sagen, dann reden wir u.a. über ein Deutschland, dessen Politiker in jedem dritten Menschen selbst Deutschlands einen Nazi und Antisemiten sehen, aber in der Ukraine nur Demokraten und Friedensstifter. Zweitens sind die nazistischen Tendenzen vor allem im noch weitgehend intakten Westen der Ukraine (Region Lwiw; ich sah kürzlich einen Videobericht eines deutschen Bloggers über Lwiw: Da herrscht dem Anschein nach ganz normales Leben.) virulent. Dorthin reicht der militärische Arm der Russen nur mit nicht sehr häufigen Raketenangriffen, die sich weit überwiegend auf militärische Ziele konzentrieren. Und drittens kann man mit einem kritischen Blick auf die Geschehnisse der jungen Bundesrepublik konstatieren, dass es vor allem darauf ankommt, wer den "Du bist kein Nazi mehr"-Stempel benutzen durfte, wenn man auszählen wollte, wie viele Nazis es noch gab. Die Russen können in diesem Punkt nur hoffen, dass die gefährlichsten Nazis der Ukraine gleichzeitig so aggressiv waren, dass sie sich unbedingt in den Kampf gestürzt haben und daher inzwischen zu einem beträchtlichen Anteil bereits untergepflügt sind.

Habe ich noch was vergessen? Aber auch wenn: Unter den gegenwärtigen Umständen, also der aktuellen Einschätzung der Lage durch die Betroffenen, kommen diese Forderungen - noch immer - dem sehr nahe, was Keitel am 8./9. Mai 1945 unterschrieben hat, nämlich der bedingungslosen Kapitulation. Das liegt aktuell weit außerhalb der Vorstellungskraft derjenigen, die das aktuell zu entscheiden hätten. Über so was können nur die Ukrainer entscheiden, denn bis sie dazu bereit sind, ist alles ausländische Personal in der Ukraine (abgesehen von den Russen natürlich) so weit verbrannt und das Land selbst ebenfalls, dass da keine Direktiven aus Washington mehr durchkommen.

Damit ich nicht missverstanden werde: Davon sind die Russen noch weit entfernt, und dass es so kommen wird, ist keineswegs sicher. Aber der Artikel beleuchtet die Bedeutung strategisch wichtiger Orte, und Lange hat bereits andere Artikel geschrieben, die darauf hinweisen, dass die Einnahme fortifizierter Orte durch die Russen es verbietet, ihre bisherige Vormarschgeschwindigkeit auf die Zukunft fortzuschreiben, denn auf diesem weiteren Vormarsch werden sie dann keine so schwierigen Hindernisse mehr überwinden müssen. Ich halte es wirklich für lehrreich, sich die Geschwindigkeit der Frontverschiebungen im Verlaufe der Jahre 1942 bis 1945 anzusehen, um zu erkennen, welche Dynamik sich in der Ukraine wahrscheinlich entfalten wird.

Und welche Wünsche und Überzeugungen man auch immer hinsichtlich dieses Konfliktes und anderer auf dieser Welt hegen mag: Wunschdenken ist ein ganz schlechter strategischer Berater.

Wer die Geschwindigkeiten der Frontverschiebungen von 1942 bis 1945 mit denen von 2022 bis 2024 vergleichend optimistische Hypothesen zugunsten Russlands aufstellt, träumt offensichtlich noch immer seelig vor sich hin und sollte sich selbst nochmal umdrehen, statt anderen Vorhaltungen darüber zu machen, aus der Ferne zu diskutieren.

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