Ansicht umschalten
Avatar von Axel Farr
  • Axel Farr

995 Beiträge seit 06.05.2002

Aus dem Blickpunkt von Russland betrachtet...

... liest sich dieser Artikel wie ein Reinwaschen von Sünde.

Ich bin mir sicher, dass in der Reaktion des Westens (und auch in den Aktionen, die nach 1990 folgten) vieles im Nachhinein betrachtet als falsch bezeichnet werden müsste, aber gehen wir mal der Reihe nach:

Nato-Osterweiterung:
Ist meiner Meinung nach schon im entsprechenden Wikipedia-Artikel beschrieben: https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Osterweiterung

Das dort beschriebene deckt sich auch mit meinen Wahrnehmungen aus dieser Zeit. Die russische Regierung hat das damals nicht besonders problematisch gefunden, aber vielleicht war Russland ja einfach durch die Milliarden an Investitionsvolumen und Transfers für Rohstofflieferungen ruhiggestellt.

Orangene Revolution in der Ukraine 2004:
Ist im Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Orange_Revolution der Wikipedia beschrieben. Diese war auch von Massenprotesten begleitet, damals ging aber noch alles glimpflich aus.
Man kann dort aber schon nachlesen, wie russland-treue Ukrainer damals versucht haben sollen, die Stichwahl zu manipulieren - was nachher zu einer Annulierung des Ergebnisses und Neuwahlen führte.

Nicht im Buch und im Text: Die Ukraine war seit 1991 zwar ein eigener Staat und kein Teil einer Staatenunion mehr, aber durch die Politik der Sowjetunion verstanden sich die wenigsten Menschen als "Ukrainer". Viele sahen sich als "ein anderes Russland". Hier setzte seit der Staatsgründung ein von praktisch allen Präsidenten (nennt man sie im Nachhinein "prorussisch" oder "prowestlich") unterstützter Prozess einer "Staatsformung" ein, mit neuer Symbolik (Dreizack, blau-gelbe Nationalfarben). Mehr und mehr verstanden sich die Menschen als "Ukrainer".

Einfluss des Westens: Westliche Staaten haben schon vor dem Zerfall der Sowjetunion begonnen, mit wissenschaftlicher Arbeit und mit Bildungsauftrag die Idee der Menschenrechte und des Rechtsstaats in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu verbreiten. Ich kann darin keinen Fehl entdecken, vor allem wenn in der gleichen Zeit Billionen Dollar aus der Wirtschaft in die entsprechenden Länder geflossen sind. Zum Teil hatte das Geld auch das Ziel, die vorher von einem allmächtigen Staat beschützten Bürger vor Nationalismus und dem was man heute "Raubtierkapitalismus" nennt zu schützen.

Euromaidan (siehe auch Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Euromaidan):
Die EU war 2004 durch die Erweiterung um u.a. Polen, die Slowakei und Ungarn bis an die Grenze der Ukraine herangerückt. In den darauffolgenden 10 Jahren konnten die Ukrainer sehr auffällig beobachten, wie diese Staaten an ihrer westlichen Grenze massiv an Wohlstand zulegten - während in ihrem Land nur vergleichsweise wenig passierte. Zwar wuchs die Wirtschaft, aber es profitierten nur wenige. Die Ukrainer erhofften sich von einem Pfad zur EU-Mitgliedschaft, auch eines Tages von der EU profitieren zu können. Die EU begann, auch Weißrussland und der Ukraine eine Pfad zum Beitritt zu eröffnen.
Genau hier war scheinbar der wunde Punkt Russlands getroffen: Waren die Beziehungen zu Russland nach 2004 zunächst abgekühlt, hatte die Ukraine sich in der Zwischenzeit auch wieder politisch an Russland angenähert. Russland sah aber scheinbar die Offerte einer EU-Mitgliedschaft als zu problematisch an. Ich kann nur spekulieren, dass es vor allem an der fundamentalen Ablehnung von Korruption durch das Regelwerk der EU lag. Da in Russland der Wohlstand ganzer Bevölkerungsteile auf der Korruption basierte, war es plötzlich zu gefährlich, sich zu nah an die EU anzunähern.

Es kann keiner erklären warum, aber der Euromaidan gab den Anstoß damit Putin etwas durchführte, was vermutlich schon längst vorher planerisch durchgespielt war: Die Anexion der Krim. Russland hatte sich mit der Ukraine schon am Ende der Sowjetunion nur schwer über die Teilung der Kosten für die Schwarzmeerflotte einigen können, und der Pachtvertrag für den Heimathafen der Schwarzmeerflotte in Sewastopol war, naja, halt ziemlich üppig. Da kann man als Pächter schon mal auf dumme Gedanken kommen.

Was Russland nicht verstanden hat, war dass der Westen diese Anexion ablehnte. Russland fühlte sich im Gegensatz völlig im Recht und bestätigt, dass dann nach einer relativ kurzen Zeit Länder wie Deutschland kamen und mit Russland wieder Verträge machten, die ultimative Bestätigung war dann North Stream 2, was die Kapazität der russisch-deutschen Pipeline auf ein Niveau anhob, bei dem man die alten Pipelines aus der Sowjetzeit zur Versorgung Ost- und Mitteleuropas gar nicht mehr unbedingt gebraucht hätte.

Nachdem die Krim so völlig geräuschlos anexiert war machte Putin dann im Donbas gleich weiter - der zweite wunde Punkt, denn der Donbas war einmal das (schwer-)industrielle Herz der Sowjetunion gewesen. Das war kein Bürgerkrieg, das war ein von Russland initiierter weiterer Versuch einer Anexion!

Was im Westen nur als Versuch gedacht war, Russland wegen seines Verhalten nicht völlig im Regen stehen zu lassen wurde leider von der russischen Führung völlig anders eingeschätzt. Sie sah das als Bestätigung dafür an, dass man ja an der UN-Charta vorbei agieren könnte, wenn man es nur geschickt genug anstellt - Europa braucht ja russiches Gas, also hat man Europa in der Hand.

Der letzte große Fehler des Westens war es, dass man meinte man könnte die 200.000 russischen Soldaten die Putin Ende 2021 rund um die Ukraine positioniert hatte mit Worten davon abhalten, den Krieg zu beginnen. Hätte man da beherzt auch nur wenige Batallione "für Manöver" in die Ukraine verlegt dann hätten Putin und Lukaschenka kalte Füße bekommen. So hatten nur die weißrussischen Generäle kalte Füße bekommen, dass ihre Soldaten schlicht den Angriffsbefehl nicht befolgen würden, daher fehlten Putin vermutlich mehrere 10.000 Soldaten und Kiew blieb den Ukrainern.

Putin und Russland sind nach dem Frühjahr 2022 mit vollem Bewustsein in die Lage hineingelaufen, in der sie sich jetzt befinden: Man war und ist weiter festen Willens, der Ukraine nicht nur den Donbass zu entreißen, sondern auch mindestens die Region Charkiw (gilt in Russland immer noch als mehrheitlich russischsprachig), die Gebiete um Kriwoj Rog (Eisenerzvorkommen) und die Schwarzmeerküste (um eine Landbrücke zu Transnistrien zu haben) zu erobern.

Der Plan des Westens? Im Moment ist es etwas, das die Amerikaner "boiling the frog" nennen: Den Krieg für Russland so teuer machen, dass es das Land irgendwann nicht mehr bezahlen kann. An Menschen, Material, Geld. Leider müssen die Ukrainer genauso darunter leider wie die Russen. Solange aber Russland kein Einsehen damit hat, dass dieser Krieg das Land mit jedem Tag weiter von den Zielen wegbringt die es sich gesetzt hat wird es da kein Einlenken geben.

Forderung der Ukrainer an Russland? Die wollen einfach nur leben und in Ruhe gelassen werden. Die Nato-Mitgliedschaft wäre für die Ukraine relativ egal gewesen, wenn nicht Russland die Ukraine so massiv militärisch bedrängt und schließlich sogar angegriffen hätte. Nach dem Krieg wird es keinen Frieden geben, bei dem die Ukraine nicht handfeste Sicherheitsgarantien erhält.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (20.06.2024 22:50).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten