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  • ic61

98 Beiträge seit 02.04.2022

Ein Trugschluss nach 30 Jahren Realität?

Bei allem Respekt sowohl für die wissenschaftliche Leistung Noam Chomskys als auch für seine immer beachtenswerte politische Courage sehe ich mich genötigt, ihm in einem, hier leider wesentlichen Punkt energisch zu widersprechen:

Chomsky konzediert unumwunden, dass sich die USA und ihre Verbündeten 1999 im Falle Jugoslawiens und 2003 in dem des Irak einen feuchten Kehricht um das Gewaltverbot der UN-Charta und die Unverletzlichkeit der Grenzen souveräner Staaten geschert haben - schließt sich dann aber dem Verdikt derselben Akteure gegen Russland unter Berufung auf ebendiese Prinzipien mehr oder minder vorbehaltlos an.

Das prinzipientreu-pazifistische Argument, ein Unrecht rechtfertige nicht das andere, verkennt m.E. den Umstand, dass eine (vorgeblich) ersehnte regelbasierte Weltordnung de facto noch in weiter Ferne liegt, heute sogar noch ferner als vor 30 Jahren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ihre verbalen Verfechter und deren Verbündete jeden Versuch im Keim ersticken, die proklamierten Regeln auch gegen sie selbst durchzusetzen; die Fälle Manning und Assange lassen grüßen.

Unter diesen real gegebenen Bedingungen befördert eine je nach geopolitischem Gusto selektive Berufung auf völkerrechtliche Standards keine regelbasierte Weltordnung, sondern deren genaues Gegenteil:
Ein gewohnheitsmäßiges Faustrecht des militärisch, ökonomisch und medial Stärkeren, das jenen ermutigt, seine ungesühnt bleibenden(!) Regelverstöße fortzusetzen, während Andere unter selektivem Verweis auf "das Völkerrecht" an einer effektiven Gegenwehr gehindert werden.

Allen Lippenbekentnissen zum Trotz muss spätestens seit 1999 jeder souveräne Staat mit einem selbstmandatierten Angriff der NATO, gewaltsamem "regime change" und der Zerstörung seiner territorialen Integrität rechnen. (Der jüngst von Biden gegen Russland erhobene Vorwurf eines "Völkermords" ähnelt übrigens schon dem Pretext für den damaligen Überfall auf Serbien.)

Die verbliebene Barriere Russlands besteht in dessen nuklearer Zweitschlagskapazität. Ebenjene wurde durch die Aufkündigung von ABM- und INF-Vertrag aber in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund steht jeder russische Präsident in der Amtspflicht, eine südliche Umfassung des russischen Zentrums durch die NATO zu verhindern.

An Versuchen, dies auf dem Verhandlungswege zu erreichen, hat es in den vergangenen 3 Jahrzehnten nicht gefehlt. Ungeachtet der 1990 gegebenen Zusage James Bakers ("not one inch eastward") wurden sie bis zuletzt brüsk zurückgewiesen. Jede völkerrechtlich grundierte Russland-Kritik muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, ob und welche Konsequenzen sie aus den geopolitischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre gezogen hat.

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