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  • archenoe

mehr als 1000 Beiträge seit 05.02.2004

Selektive Wahrnehmung wegen Verblendung durch Narrative

Der Infokrieg hat Erfolg. Das TP-Forum beweist es und ist ein Abbild der Bewusstseinslage in der Gesellschaft Deutschlands.

Das Chomsky-Interview könnte trotz teils fragwürdiger Übersetzung völlig anders gelesen werden, als es hier im TP-Forum geschieht. Im TP-Forum dominiert die verblendete Position aus Sicht der USA/NATO/EU/Deutschland und konträr dazu die verblendete Position aus Sicht Putins/Russlands.

Deshalb wird Chomsky wahlweise Senilität oder Verbeugung vor der einen oder anderen Sichtweise unterstellt. Seine Aussagen werden dementsprechend selektiv wahrgenommen. D.h., in der derzeitigen Phase ist von einer riesigen Mehrheit kaum noch eine unvoreingenommene Wahrnehmung von Analysen/Interpretationen/Ansichten möglich, weil sich die konträren Narrative des Infokrieges längst in ihren Köpfen verfestigt haben - mit zahlreichen Anknüpfungspunkten aus Bewusstseinsinhalten vor dem Schießkrieg Russlands gegen und in der Ukraine..

Schon die falsche TP-Einleitung des Interviews mit Chomsky wird kritiklos geschluckt. Chomsky sagt keineswegs, dass Russlands Invasion ein "unprovozierter" Angriff sei, wohl aber ein letztlich "ungerechtfertigter".

Putins Psychostruktur ("paranoide Fantasien") und seine Handlungslage ("umgeben von unterwürfigen Höflingen") betrachtet Chomsky nicht als außergewöhnlich oder typisch russisch, sondern als eher typisch für die Handlungslage politisch Mächtiger - mit Verweis auf Trump.

Dann schlägt Chomsky vor, sich von dieser Psychoebene zu lösen und anderen Urteilskriterien zuzuwenden. Chomsky realisiert das durch die Wiedergabe von Zitaten amerikanischer Experten und ehemaliger Regierungsmitglieder und kommt zu dem Schluss:

"Kurzgefasst: Die Krise hat sich über 25 Jahren hinweg zusammengebraut, in denen die USA russische Sicherheitsbedenken, insbesondere Moskaus klaren roten Linien, in geradezu verächtlicher Weise zurückgewiesen haben. Das betrifft Georgien, vornehmlich aber auch die Ukraine."

Das entspricht seiner jahrzehntelangen Kritik an den USA und ist keineswegs ein Einschwenken auf US-Linie, nur weil Chomsky gleichzeitig den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt. Im Gegenteil, Chomsky verschärft noch einmal seine Kritik an den USA, indem er sagt, der Krieg Russlands gegen die Ukraine hätte vermieden werden können, wenn die selbst in den USA vorhandene Expertise (die er vorher zitiert) zur Konfliktlage berücksichtigt worden wäre. Außerdem bezeichnet er es als verständlich, dass die unter dem verbrecherischen russischen Angriff auf die Ukraine Leidenden kein Interesse an der Analyse der Bedingungen für Putins/Russlands Angriff haben, aber er sagt auch unmissverständlich, das dieses Desinteresse falsch sei.

Nach einigen historischen Exkursen (Bezugspunkt Vietnam) kommt er zu dem bitteren, aber aus seiner Sicht unausweichlichen Ergebnis:
"Ob es einem gefällt oder nicht, die Wahlmöglichkeiten reduzieren sich nun auf ein hässliches Ergebnis, das Putin für den Akt der Aggression eher belohnt als bestraft – oder auf die hohe Wahrscheinlichkeit eines ultimativen Krieges. Es mag sich befriedigend anfühlen, den Bären in eine Ecke zu treiben, von der aus er verzweifelt ausschlägt. Sehr weise ist das sicher nicht."

Chomsky warnt hier völlig berechtigt vor einem europäischen oder gar Weltkrieg und schlägt fast resigniert vor, alles zu tun, dass es dazu nicht kommt, auch wenn er die aktuelle Notwendigkeit der Unterstützung für die ukrainische Bevölkerung sieht (hier bleibt er allerdings nebelhaft bzgl. der Art der Unterstützung (auch Waffen?)).

Danach verweist er, ebenfalls völlig richtig, auf die eigentliche Herausforderung für den Planeten, indem er globale Zusammenarbeit fordert, "um die große Geißel der Umweltzerstörung in den Griff zu bekommen", die nun durch Nutzung von Ressourcen für Kriegsführung noch virulenter werde. Er schließt diesen Passus mit einem treffenden Zitat ab:
"Eine groteskere Entwicklung könnte sich ein bösartiger Dämon kaum erträumen lassen. Es kann nicht ignoriert werden. Jeder Moment zählt."

In der Folge unterstreicht Chomsky die Position, die Kriegsführung der USA (Kosovo, Irak, Libyen) nicht als Rechtfertigung, aber als Hintergrund und Bezugspunkt für den russischen Angriff auf die Ukraine zu sehen. Die Ukraine sieht er insgesamt als "Opfer" der global-hegemonialen Interessen der USA und der eurasisch-hegemonialen Interessen Russlands. Außerdem verweist er auf China als aktuellen globalen Faktor und fasst dies in dem prägnanten Satz zusammen:
"Währenddessen schaut Beijing zu, wie sich die übrigen Rivalen gegenseitig fertigmachen."

Kurz:
Ich stimme keineswegs mit jedem Wort und jedem Teilsatz dieses Interviews überein, aber mit der selektiven Wahrnehmung des Interviews von den "NATO- und Putin-Trollen" noch viel weniger.

Chomsky bewahrt die Vernunft und sucht nach einer Möglichkeit, den Schießkrieg in der Ukraine schnell zu beenden. Außerdem bringt er auch für die USA die Vernunft in Anschlag, indem er darauf verweist, dass (eigentlich!!!) die USA (auch im Kapitalismus) für Frieden eintreten müsste, weil massenhafte und möglicherweise mit Atomwaffen generierte Zerstörung einen fundamentalen Bruch in der Menschheitsgeschichte darstelle.

Deshalb Chomsky Abschlussbemerkung:
"Wie wir bereits festgestellt haben, würde ein militärischer Konflikt [hier ist ein globaler Krieg gemeint, Anm. archenoe] ein Todesurteil ohne jeden Sieger für die menschliche Art bedeuten. Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt in der Menschheitsgeschichte. Das kann nicht geleugnet werden. Das kann nicht ignoriert werden."

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