Noam Chomsky nennt es im Interview »ein paar unbestreitbare Fakten (...), dass die russische Invasion in der Ukraine ein großes Kriegsverbrechen ist, das neben der US-Invasion im Irak und der Hitler-Stalin-Invasion in Polen im September 1939 rangiert.« Grundlage dieser Sichtweise ist wohl das zum ius cogens des Völkerrechts zählende allgemeine Gewaltverbot zwischen Staaten, auf das sich auch die Medien im Kontext des Donbasskonfliktes beziehen, doch fällt selbst mir als Nichtjuristen auf, dass es ganz so einfach nicht sein kann, weil völkerrechtlich gerade nirgends definiert ist, was einen Angriffskrieg ausmacht.
Mit dieser Definitionsfrage befassten sich zumindest indirekt sogar deutsche Generalbundesanwälte im Kontext bewaffneter Konflikte, etwa um den Kosovo oder im Irak, weil nach unterschiedlich ausgeprägter deutscher Beteiligung jeweils Strafanzeigen aufgrund des später gestrichenen § 80 StGB gestellt worden waren, wobei hier jede strafrechtliche Norm stets unter Beachtung des Artikels 26 Absatz 1 GG auszulegen sei, es also auf die Absicht der Friedensstörung zwischen den Völkern ankomme, an der es beim deutschen Engagement im Kosovo schon allein deshalb gefehlt haben müsse, da die Unterstützung jener Spezialoperation doch gerade das bereits schwer gestörte friedliche Zusammenleben der dortigen Völker militärisch wiederherstellen wollte. Zumindest nach deutscher Rechtsauffassung steht die Frage, was als rechtswidrige Aggression zu werten sei, entscheidend unter dem Vorbehalt der Motivlage der Akteure.
Und wenige Jahre später räumte ein deutscher Generalbundesanwalt unumwunden ein (am 21.03.2003): »Dem Völkerrecht ist – jedenfalls derzeit – kein allgemein anerkannter und auch nur einigermaßen ausdifferenzierter Begriff der völkerrechtswidrigen bewaffneten Aggression zu entnehmen. (...) Auch das in Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (...) statuierte Gewaltverbot ("Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt") trifft keine Aussage zur rechtswidrigen Aggression.« (http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Irak/klagen.html) Entgegen dem Verbot militärischer Gewaltanwendung ergäben sich völkerrechtliche Erlaubnistatbestände unter Umständen aus ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen des universellen Völkergewohnheitsrechts, etwa der Rechtsfigur der humanitären Intervention; selbst das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs definiere des Verbrechens der Aggression nicht.
Sofern dieser Definitionsmangel noch immer besteht, erscheint es – angesichts der humanitären Katastrophe im Donbass mit rund 14.000 Toten noch vor der Ausweitung des ukrainischen Bürgerkriegs zwischen Regierungstruppen und sogenannten Terroristen zum nun internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und Russland – gerade vor dem Hintergrund der gut etablierten westlichen Maßstäbe für eigene Militäreinsätze in der Vergangenheit sehr unklar, was man Russland eigentlich vorwirft. Entweder das Völkergewohnheitsrecht gilt für alle Staaten gleichermaßen, oder neben Willkür existiert faktisch nichts!