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Avatar von Axel Farr
  • Axel Farr

mehr als 1000 Beiträge seit 06.05.2002

Es ist leicht, aus der Ferne über Schwächere herzuziehen

Zuerst vielleicht einmal ein Rückblick:

Wer von den geneigten Lesern hätte am Abend des 24. Februar '22 erwartet, dass die Ukraine bis zum Sommer des gleichen Jahres durchhält?

Wer hätte gedacht, dass die Ukraine im Sommer und im Herbst noch einmal mit dem ihr zur Verfügung stehenden Material ca. 1/4 der von den Russen seit dem Frühjahr besetzen Landfläche zurückerobern würde?

Zu den im Artikel genannten Punkten:
Der Aufhänger des Artikels ist ja die Störanfälligkeit von GPS. Der Autor hat Recht und er hat Unrecht. Ja, GPS lässt sich leicht stören. Hat jeder schon mal mitbekommen, der überempfindliche GPS-Empfänger benutzen musste (ich kann mich an ein Tablet erinnern, dessen GPS-Empfang durch eine eingesteckte SD-Karte regelrecht "ausgeknipst" wurde).
Bestimmte Sorten älterer Munition (u.A. wie genannt gelenkte Granaten) lassen sich daher nicht mehr sinnvoll einsetzen. Es gibt aber auch neuere Munition und Empfänger, die sich dadurch nicht mehr in die Irre leiten lassen. Hinzu kommt, dass die Ukraine bis vor kurzem russisches Gebiet nicht mit westlichen Waffen angreifen durfte. Dreimal raten, wer auch Waffen gegen GPS-Störsender liefert...

Rückzug der Ukraine: Während Russland in den letzten 12 Monaten ganz massiv seine Personalstärke aufgebaut hat, zehrte die Ukraine lange von den Kräften, die zu Anfang des Krieges freiwillig zur Armee gingen um ihr Land zu verteidigen. Russland hat in der Ukraine ca. 500.000 Mann im Einsatz, bei der Ukraine sind es vermutlich nur 1/3 bis 1/4 so viel. Russland greift mit entsetzlichen Verlustraten an, zu den Zeiten wo sich die Front bewegt gehen täglich zwischen 1000 und 1500 Mann verloren - das sind keine Fantasiezahlen, diese Zahlen decken sich mit Aussagen des russischen Verteidigungsmisteriums dass pro Monat ca. 30.000 Mann neu an die Front kommen.
Die Ukraine muss also ihr Personal schützen und darf es nicht verheizen. Daher wird seit dem Fall von Avdijvka Landfläche geopfert, um Soldaten zu sparen - es klingt leider verdammt makaber, aber so ist es. Rückzug bringt es aber mit sich, dass der Gegner neben dem Land auch liegengebliebene Fahrzeuge erbeuten kann, so ist zu erklären, wie immer mehr westliche Waffen ihren Weg nach Russland finden; in der Regel soweit unbrauchbar gemacht, dass die Russen nichts mehr mit ihnen anfangen können.

Technologisch komplexe Waffen:
Die gibt es zweifellos, aber es gibt auch noch immense Lager mit klassischem Material. Der westliche Panzer mit der höchsten Anzahl in der Ukraine dürfte mittlerweile der Leopard sein (der heutzutage gerne "Leopard 1" genannt wird weil es auch einen 2. gibt). Gut 100 Stück sind davon in der Ukraine.
Die Amerikaner haben nach wie vor riesige Bestände an M113 Schützenpanzern, M48 Patton Kampfpanzer etc. in der Wüste stehen. Die Dinger könnte man wieder herrichten.
Russland macht das wegen seiner immensen Verluste seit Anfang 2023 ganz massiv. Man rechnet, dass ca. 1/4 bis 1/3 dieser Altbestände bereits in den Krieg gebracht - und zu einem beträchtlichen Anteil zerstört worden sind.

Tests von Waffensystemen:
Doch, die gibt es. Die Amerikaner hatten da auch schon Testgelände geschaffen, nannte sich dann "Koalition der Willigen gegen den Irak". (das ist jetzt auch wieder böse gesagt, aber glaub' mir, dass sich trotz der besten Tests manche Probleme halt erst im richtigen Leben zeigen)

"Fehler" von Waffensystemen

Switchblade:
Die Drohne kostet lt. Wikipedia 6000 Dollar (zwei Nullen weniger). Es ist eine Waffe, die von einem Piloten per RC-Fernbedienung gesteuert wird - dass sie massiv gestört wird ist ein Befund von Anfang 2023, so dass man durchaus annehmen kann dass sie am Anfang schon gut ihren Dienst verrichten konnte. Danach wurden andere Systeme verwendet, teilweise setzt die Ukraine auch "fliegende Hubs" ein, damit die Drohnen besser vor Störsendern geschützt sind.
Das EMV-Umfeld auf dem Schlachtfeld hat sich in den vergangenen 2 Jahren vermutlich erheblich gewandelt. Man schaue sich mal Angriffs-Videos von sogenannten FPV-Drohnen von Sommer 2022 und von Herbst 2023 an: Die Aufnahmen von Herbst 2023 zeigen in der Regel ab einem Abstand von 15 - 20m vom angegriffenen Fahrzeug immer mehr verrauschte Bildzeilen an, bis einige Meter vor dem Einschlag nur noch "Schnee" zu sehen ist. Die Störsender sind so massiv, dass teilweise nicht nur die RC-Verbindung abreißt, sondern sogar die Kamera gestört wird und nicht mehr filmen kann.

M1 Abrams (gilt ähnlich für Leopard 2, beide Systeme sind sehr ähnlich):
Zunächst gilt jeder westliche Kampfpanzer auf dem Schlachtfeld der Ukraine erst einmal als ein bevorzugtes Ziel der Russen (pro abgeschossenem Leo 2 oder M1 werden mehrere Monatslöhne Abschussprämie gezahlt).
Beide Panzer haben gemein, dass sich im langen Heck des Turms die Munition befindet. War eine gute Idee für die Einsatzplanung "Kampfpanzer", da ein Treffer in die Wanne dann keine Munition entzünden kann (siehe die "Jack out of the box"-Videos von sowjetischen Panzertypen, denen die Munition im Lader unter Kommandant & Richtschütze explodiert). Dort gibt es eine Sollbruchstelle an den sogennanten Blow-Out-Panels, die bei einer Explosion der Munition die Besatzung schützen sollen. Dummerweise haben die Russen gemerkt, dass wenn man da mit einer FPV-Drohne hineinschießt schon der relativ kleine Holladungskopf der Drohne reicht, das Munitionslager in Brand zu schießen. Gibt einen tollen Leuchteffekt. Die Besatzung überlebt es wenn das Munitionsschott geschlossen war, aber der Panzer ist dann reif für eine Reparatur.
Bei dem M1 besteht außerdem der Verdacht, dass die in die Ukraine gelieferten Exemplare eine andere Panzerung haben. Die Amerikaner haben die M1 für die Ukraine neu gebaut, sie sind keine Bestandsware.
Beide Panzer nutzen eine 120mm-Glattrohr-Kanone. Grund ist die höhere Durchschlagsleistung solcher Waffen gegen gepanzerten Zielen wenn man unterkalibrige Wuchtgeschosse verschießt. Für den in der Ukraine häufigsten Einsatz der Kampfpanzer als "vorgeschobene Artillerie" ist der Leopart 1 mit seiner 105mm gezogenen Kanone besser, da der bei ähnlicher Durchschlagsleistung mit Sprenggeschossen auf Entfernungen >2 km deutlich zielgenauer ist.

M777 (generell: Verschleiß an Rohren)
Die Rohre sowohl von Panzern wie auch von Artillerie-Geschützen sind Verschleißteile. Wenn man dann keine Feldwerkstatt hat, dann muss man die Waffen da hin schaffen wo die Werkstatt ist - ein einfacher Tausch des Kanonenrohres werden die Ukrainer selbst hinbekommen. Wenn aber ein Leo 2 ein Dreiviertel Jahr im Einsatz war und schon 3 Beinah-Durchschüsse durch die Panzerung hat dann kann ich verstehen, dass der soweit runter ist dass er nach Litauen in die Wartung muss. Bei den Planungen zu Zeiten des kalten Kriegs hat man einem Kampfpanzer eine mittlere Lebenserwartung von deutlich unter 2 Monaten zugestanden. Ich denke an diesen Maßstäben gemessen hält das westliche Zeugs durchaus gut...

155mm-Granaten / generell Munitionsproduktion:
Hier hat es leider ein Jahr zu lange gedauert, bis der Westen wach wurde. Die Bestellungen bei den Herstellern hätte man schon Ende Februar 2022 tätigen können, da wusste man schon dass Krieg ist. Spätestens als die Russen im Herbst/Winter 2022/23 begannen, ihre Offensiven mit extrem massivem Artilleriefeuer zu begleiten war klar, dass man nicht im Ansatz ausreichend Munition hat. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass die USA nach wie vor noch große Bestände haben (vermutlich sind es derzeit die weltweit größten Bestände), aber eben nicht alles Geld auf ein Pferd wetten (sprich: Alle Artilleriegranaten in die Ukraine schaffen) wollen.
Es gibt aber in der westlichen Hemisphäre weit mehr als nur eine Munitionsfabrik. Und neue werden gebaut, bestehende erweitert.

Patriot-Raketen:
Es sind 2 Starter bestätigt zerstört worden, und zwar an Donetzk-Front weil sie gegen die Flugzeuge eingesetzt wurden, die die Front mit Gleitbomben angreifen. Dazu musste man die Patriot-Starter bis auf wenige -zig Kilometer an die Front bringen. Die Patriot-Einheiten bei Kiew wurden nicht ge- oder zerstört. Die mangelnde Effektivität der Systeme erklärt sich aus ihrer zu geringen Anzahl und dem Mangel an Munition: Russland hat die Energie-Infrastruktur der Ukraine vor allem mit koordinierten Angriffen zerstört, bei denen durchaus angreifende Systeme (darunter auch balistische Raketen) zerstört wurden - bis halt die Munition alle war. Danach konnten die Ukrainer nur noch zuschauen, wie die restlichen Raketen das zerstörten, was man zu schützen gehofft hatte.

Himars:
Die Dinger funktionieren immer noch tödlich gut. Nach der Freigabe von Einsätzen auf russisches Territorium müssen diese Waffen im Oblast Belgorot eine fürchterliche Ernte unter Nachschubtruppen für die Charkiw-Front eingeholt haben...

Fazit:
Nach meiner Auffassung sind die westlichen Waffen alles andere als wertlos. Es gibt definitiv zu wenige, aber es gibt auch definitiv auf der Seite der Ukraine im Moment zu wenige Soldaten. Der Westen muss sich überlegen, wie er mit diesem Krieg vor seiner Haustür in der Zukunft umgehen will. Ein "weiter so" wird nicht unbegrenzt funktionieren. Die Waffenlieferungen langsam auslaufen zu lassen wäre vor allem für die Ukrainer die seit 2 Jahren verbissen kämpfen wie ein Schlag ins Genick. Im jetzigen Maß die Waffen weiter liefern würde aber auch nur bedeuten, dass man den Krieg "so laufen" lässt. Ich weiß nicht, ob der Westen dann in 2 Jahren den 1. Millionsten Russischen Verlust feiern will.
Die politischen Reaktionen aus Russland auf Entscheidungen zur Waffenlieferung und zur Unterstützung der Ukraine lassen deutlich erkennen, dass beides den Russen weh tut. Es hat aber noch keinen Schlag gereicht, dass Russland auch nur einen kleinen Hauch Anbstand von seinen Kriegszielen genommen hat.

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