Ich weiß nicht, in wie weit Du mit der jüdischen Kultur und der Kultur in Osteuropa vor dem 2. Weltkrieg bewandert bist.
Die Juden lebten seit dem 2. jüdischen Krieg der Römer komplett in der Diaspora (d.h., sie siedelten in einer Umgebung anderer Religion und anderer Völker). Ein wesentliches Element ihrer Kultur war die Religion und die (Schrift-)Sprache des Tanach, das Hebräische.
Zu einer Zeit (Mittelalter) als es üblich war, dass Könige und Fürsten über ein Sammelsurium von Völkern herrschten, diesen aber die Religion vorgaben (in Europa waren dies meist katholisches oder orthodoxes Christentum) waren die Juden wegen des Festhaltens an ihrem Glauben Anfeindungen ausgesetzt. Gab aber eine jüdische Familie ihren Glauben auf und schloss sich der Mehrheitsreligion an, dann war das gleichbedeutend mit dem Verlust dieser Menschen für die Glaubensgemeinschaft, oft verlor sich die Spur dieser Menschen nach wenigen Generationen in der Mehrheitsbevölkerung.
Nun hatten aber die Juden wegen der Anfeindungen durch die Mehrheitsgesellschaft in Europa verschiedene Eigenheiten entwickeln müssen:
- Es wurde in der Regel nur eine bestimmte Anzahl jüdischer Familien an einem Ort geduldet. War diese Anzahl überschritten, mussten neue Siedlungsplätze gefunden werden oder junge Männer verliesen in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihre Heimat.
- Da Juden auf der Durchreise oft mishandelt, überfallen oder getötet wurden versuchten sie, sich von einem jüdischen Ort zum nächsten zu hangeln, immer in der Hoffnung, zumindest eine Arbeit, günstigstenfalls jedoch eine neue Lebensgrundlage zu finden.
- Die Verständigungen auf diesen Wanderungen ging in der Regel gut, viele Juden in Osteuropa wuchsen mit Jiddisch als Muttersprache auf, viele Juden bis an den Rhein sprachen Deutsch. Wenn das nicht klappte, konnte man es mit Hebräisch versuchen, da das in allen jüdischen Gemeinden zumindest von Frankreich bis Osteuropa ähnlich (aus-)gesprochen wurde.
- In den meisten Staaten war den Juden der individuelle Grundbesitz verboten, auch hatten sich die meisten Gilden den Juden verschlossen. Es gab nur wenige Berufe, die den Juden erlaubt waren - die oft mit Reisetätigkeit verbunden waren.
Unter den Juden in Europa gab es sozusagen einen "Internationalismus", man sah sich gegenseitig als Juden an, nicht als Sachse, Preuße, Pole, Franzose oder Russe.
Als im 19. Jahrhundert in Europa die Nationalstaaten entstanden stellte sich für viele der Nationalstaaten die Frage, wie man mit den Juden umgehen sollte. In alter Tradition galten sie als Sonderlinge, unterlagen bestimmten Regeln und Verboten - waren also nicht gleichberechtigt, eine Regelung die oft noch ihren Ursprung in dem Alleinvertretungsanspruch der jeweiligen Staatskirche hatte.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war in fast allen Staaten Europas die formelle Unterdrückung der Juden beendet. Das änderte aber oft nichts an der kulturellen Sonderstellung - weil sich eben finanzielle Not nicht per Gesetz ändern lässt, ebenso wenig wie kulturelles Verhalten.
Wer insbesondere kulturelles Verhalten (sei es Sprache oder andere Kulturelemente) als Unterscheidungskriterium zwischen "wir" und "ihr" hernahm, das waren eben die Nationalisten. Wer da am Sonntag nicht mit zum Gottesdienst in die Kirche ging, konnte ja keiner von ihnen sein.
Umgekehrt sahen es viele Juden nicht als notwendig an, sich der Mehrheitsgesellschaft zu öffnen - im Gegenteil gab es z.B. in Deutschland im 19. Jahrhundert verschiedene Spielarten des Judentums und auch Diskussionen innerhalb des Judentums, wie man mit den neu gewonnenen Freiheiten umgehen sollte oder in wie weit man sich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren konnte, sollte oder wollte. Viele sahen sich auch im 20. Jahrhundert noch eher als "Juden" denn als "jüdische Mitbürger", denn die Abneigung der Mehrheitsgesellschaft war immer noch zu spüren - auch wenn es rechtlich keine oder nur noch geringe Diskriminierung gab. Umgekehrt gab es auch unter den Juden Menschen, die die Idee der Aufklärung bis zum Ende dachten und sich formell von der Religion ihrer Väter lossagten, ohne in eine christliche Kirche einzutreten - das war dann das andere Extrem einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft (was aber die jüdische Gemeinschaft nicht daran hindern musste, diese Menschen weiter als Juden zu betrachten, denn die Religion kennt kein "Austrittsformular", das Kind einer jüdischen Mutter bleibt jüdisch solange es sich nicht explizit als Christ oder Muslim bekennt).
Antisemitismus gab es schon im Mittelalter, die Menschheit hat den leider bis heute bewahrt.
Nationalismus ist nach meinem Verständnis wohl im 19. Jahrhundert als Antwort auf den Zerfall der "alten Ordnung" durch die napoleonischen Kriege entstanden und war im 20. Jahrhundert der Auslöser der beiden Weltkriege. Wo er aber zutage trat, da zeigte er sich oft in Kombination mit dem Antisemitismus - weil eben "Juden" nicht für einen ordentlichen Nationalisten taugten.