Wie das zweiteilige Zitat von Borrell belegt, geht es nicht um das Eingeständnis eines Mißerfolgs, sondern einen Auftrag im "Kampf der Narrative", in dem das EU-Staatsbündnis "im Moment" nicht gewinnt - aber im Weiteren gewinnen muss. Ich befürchte, der Autor möchte aus der stattfindenden Propaganda mehr den "Misserfolg" herauslesen als den ständig bekräftigten Anspruch auf mehr Erfolg.
Was der Anti-Russland-Allianz in ihrem Vormachtstreben natürlich gar nicht passt sind Staaten, aktuell vor allem die im Süden, die sich dem globalen Führungsanspruch von NATO und EU gegen Russland nicht dienlich zeigen, weil sie als Entwicklungsruinen des Westens eher ihre eigenen nationalen Anliegen im Blick haben, keine besonders eigenen Gründe sich am Sanktions-Krieg zu beteiligen oder sogar, wie man gerade am Lawrow-Besuch in Senegal sieht, zu kooperativen Gesprächen mit dem russischen Erzfeind bereit ist.
Der inszenierte Jubel mit vielen Russland-Fahnen hat beim Team America & "Putin ärgern!" vermutlich für einige knirschende Zähne gesorgt. Was für die Allianz im Irak-Krieg und im War-on-Terror an anderen schon etwas ärgerlich war, - die nur bedingte nationale Bereitschaft zum Mitmachen, ist für das Schmieden einer Weltkriegs-Allianz noch ärgerlicher, oder wäre es, wenn nicht wie dieses Mal, die Haupt- und Ostverbündeten plus Skandinavien relativ übereinstimmend dieselbe Linie verträten. Als Mitmacher haben die afrikanischen Staaten geo-politisch wenig Eigen-Gewicht, allerdings stört die westlichen seit geraumer Zeit, dass sich in "unsere" ex-kolonialen Schuldenstaaten Russen und Chinesen einmischen.
Leicht daneben liegt der Artikel beim Anspruch der Hüter der Souveränität. Indem er vom völkerrechtlich formulierten idealen Ziel der "territorialen Unversehrtheit" als absolutem Gebot in der Staatenkonkurrenz ausgeht und von dort etliche "Verstöße" durch die Hüter selbst feststellt.
Es stimmt ja soweit: In der beschlossenen Geschäftsordnung der Staaten sollen grundsätzlich alle nationalen Gegensätze und Streitigkeiten "friedlich", unter Wahrung der Anerkennung der jeweiligen Gewaltmonopole, ausgetragen werden, möglichst nur in der Konkurrenz mit politischen und ökonomischen Machtmitteln. Dass in dieser Konkurrenz der Nationalgewalten immer wieder handfeste Gründe für militärische Fortsetzungen der Konflikte gemacht werden, dem trägt das Völkerrecht ebenfalls Rechnung, in dem es Aufrüstung für die Verteidigung und dafür auch Krieg gegen eventuelle unrechtmäßige Angriffe von Souveränen erlaubt.
Der wesentliche Punkt liegt aber weniger in der Verabsolutierung der Anerkennung von Souveränität, sondern darin, Souveränität als effektives Mittel zu nutzen und sich als die übergeordnete Macht zu positionieren, die sich ermächtigt über andere zu entscheiden, welche staatliche Gewaltanwendung unrechtmäßig ist und welche legitim als "Verteidigung" von Werten anerkannt werden muss. Dafür ist "internationale Zustimmung" zwar sehr erwünscht, aber deshalb macht sich eine ambitionierte Staatsmacht doch von mehrheitlich abgestimmten UNO-Mandaten oder Verurteilungen nicht abhängig. Die Klage (von Borrell) über die "egoistischen" nationalen Sonderinteressen ist so alt wie der Völkerbund, die UNO und die EU zusammen, und jeder Staat weiß, dass NATO-First! und EU-Interessen gar nicht frei von eigennützigen Berechnungen sind.
Wenn es ihnen hier auch kritisch als "Gegenteil" oder "Doppel-Standard" vorgehalten wird, selber gegen die vornehmsten Etiketten der globalen Gewaltkonkurrenz zu verstoßen, die Erfolge auf die es USA, NATO oder Europa immer ankam, sich als die berechtigten "Hüterinnen" ihres Weltrechts gegen ihre "Völkerrechts-Verbrecher" durchzusetzen, haben sie doch bis heute recht praktisch eingefahren, egal ob die beigelegten Narrative von erfundenen Massenvernichtungswaffen und Weltbedrohungen nun eher unglaubwürdig waren oder nicht, wie der Autor ja selbst festhält.
Kritik jedenfalls hält sich in den vorgegebenen Bahnen. Kaum verlautet die Regierung einen "völlig überraschenden Abzug" der USA, bei dem man nach monatelangen Ankündigungen "überstürzt" abfliegen, die afghanischen Ortskräfte aber leider zurücklassen muss, ist nichts schlimmer als ein "Abzugs-Chaos" in Afghanistan, "Versagen bei Demokratisierung und Frauenrechten", "Unordnung" oder gar ein "Machtvakuum" zu hinterlassen, statt der von diesen militanten Anti-Amerikanern gesäuberten, westlich kontrollierten Ordnung, die vorher mit "state building" verheißen wurde. Solche Kritik macht sich gut und kritische Bürger dürfen dann auch gerne fragen, ob so ein Kriegseinsatz, der Deutschland gar nicht in die Gleichrangigkeit zu den USA katapultiert hat, nicht viel zu kostenträchtig war, angesichts des vermeintlich mickrigen Erfolgs. - Die Verwandlung von der Verteidigungsarmee und Aufstieg zur weltweit agierenden Kriegstruppe neben den USA haben sie damit immerhin geschafft. Eine Diskussion darum gibt es nicht und mit einem Untersuchungsausschuss wird nun nur noch geklärt, was Deutschland für mehr eigenständige, zukünftige Kriegseinsätze daraus lernen muss.
Beim EU-einheitlichen Narrativ von Borrell, Baerbock u.a. über Russland, das nun "den globalen Hunger als Waffe" einsetzen soll, schreibt Baroud sehr richtig, dass die Sanktionen gegen Russland als Grund für Lieferausfälle geflissentlich weggelassen werden und man sowieso angesichts der jahrzehntelangen Hungerkatastrophen fragen könnte, wieso der Westen sich nun zum Anwalt einer "weltweiten Ernährungssicherheit" aufschwingt, wo sie ihm doch bis zum Russen-Angriff, außer den Hilfslieferungen, ziemlich egal war. Wo die Zahlen von Hungernden und Toten seit Jahrzehnten in die Millionen gehen, kann ernsthaft nicht von einer "Ernährungssicherheit" geredet werden, die nun von Putin bedroht wird.
Man könnte noch hinzufügen was Renate Dillmann, die einige TP-Artikel geschrieben hat, kürzlich in einem Gespräch mit dem YT-Kanal 99 ZU EINS zum Thema "Putin-Schuld & Hungerkrise" viel ausführlicher erläutert hat, nämlich dass es weit über die tatsächlichen Lieferausfälle hinaus die an Terminbörsen spekulativ hochgesetzten Preise sind, die mittlerweile große Bevölkerungsteile von vorhandenen Lebensmitteln ausschließen. Davon reden EU-Politiker auch bei anderen erhöhten Preisen ihrer Märkte lieber nicht. "Putins Schuld" passt besser.
Etwas widersprüchlich in den sonst richtigen Darstellungen des Artikels finde ich im Resümee die Diagnose, der Westen hätte den Kampf der Narrative "in Wahrheit nie gewonnen". Wozu betreiben denn die Staaten neben der praktischen Durchsetzung ihrer Politik so gigantische Informationsabteilungen, die alles mit guten Gründen und Absichten beweihräuchern, wenn es ihnen letztlich, "in der Vergangenheit", immer "egal" gewesen sein soll, wie diese Schlacht ausgeht? Außerdem sind diese Informationen doch massenwirksam genug angekommen, wenn die moralischen Verurteilungen nur ausreichend im nationalen Kollektiv nachgeplappert werden, außer vielleicht in Afrika.
Ich würde eher sagen, wo es um die vereinnahmende Mobilmachung für reichlich ungesunde und souveräne Gewaltfragen geht, da ist ebenso der "Kampf um die Köpfe", wie er immer mal wieder hervorgehoben wird, offenbar von besonderer Wichtigkeit für den Willen zum Mitmachen, auch wenn die "Glaubwürdigkeit" der Erzählungen weder für "afrikanische Staaten", die sich einreihen sollen, noch für Leute, die an die Front geschickt werden, für niemanden eine ausschlaggebende Rolle spielen.
Ob man sich auf eine neue "Balance" der Machtgewichte gegenüber der westlichen Vorherrschaft erhoffen sollte, wage ich angesichts bisheriger kriegerischer Drohungen gegen eine ganze Reihe von "Evil-Doers" zu bezweifeln. Darüber entscheiden keine erfolgreichen Narrative, sondern Waffen.