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  • T. McKenna

87 Beiträge seit 23.01.2023

Aus gegebenen Anlass: Mearsheimer und der Neorealismus

Da man hier im Forum mehrere Beiträge lesen kann, in denen Mearsheimer und der politikwissenschaftlichen Schule des Neorealismus vorgeworfen wird, das Selbstbestimmungsrecht von Ländern wie der Ukraine zu negieren, gibt es anbei einen wiederholten Versuch meinerseits, zwischen den deskriptiven/wissenschaftlichen Aussagen der neorealistischen Schule, und normativen Wertungen zu unterscheiden.

Die von Mearsheimer vertretene Schule des Neorealismus sagt im Kern nichts darüber aus, wie Länder sich gegenüber einander verhalten sollten, sondern sie beschreibt aus einer wissenschaftlichen/deskriptiven/beobachtenden Perspektive zunächst das Verhalten von Staaten miteinander. Im Kern des Neorealismus steht die Beobachtung, dass sich die Verhältnisse moderner Staaten (und auch größerer Weltreiche zuvor) durch Machtpolitik und Dominanz (Hegemonie) auszeichnen. Hegemonie (Große Mächte entscheiden über die Geschicke kleinerer Mächte) ist eine machtpolitische Tatsache, die sich durch die menschliche Geschichte zieht und als solche vom Neorealismus beschrieben wird.
Freiheits- und Selbstbestimmumgsrecht hingegen sind anzustrebende, normative Werte, die selten etwas mit den häufig hegemonialen Verstrickungen vieler Länder zu tun haben. Da die Verhältnisse moderner Staaten immernoch sehr stark von hegemonialen, machtpolitischen Verhältnissen (Einflusssphären) geprägt sind, wie im Neorealismus beschrieben (deskriptiv), leitet Mearsheimer aus dieser Beobachtung ab, dass sich Staaten im Bewusstsein dieser Tatsache verhalten sollten (Ukraine als Brückenstaat), da Länder wie die Ukraine sonst Gefahr laufen, zwischen hegemonialen Einflusssphären zerrieben zu werden. Was man die im Übrigen die letzten 10 Jahre beobachten kann. Aus einer wissenschaftlichen Beobachtung (Hegemonie) leitet Mearsheimer also lediglich ab, wie sich Staaten wie die Ukraine verhalten sollten, um bestmöglich zu existieren.

Wäre es aus normativer Perspektive wünschenswert, wenn sich alle Länder an Freiheits- und Selbstbestimmungsgebot halten würden? Ja.
Leben wir in einer solchen Welt? Nein.
Selbst als es mit den USA die letzten drei Jahrzehnte lang nur einen Hegemon auf der Welt gab, veranschaulichen deren wirtschaftliche Einflussnahme durch NGOs und Kriege im Irak, Afghanistan, oder Libyen, dass Hegemone ihre Machtposition knallhart ausnutzen. Selbstbestimmungsrecht? Der Hegemon kennt so etwas nicht.
Länder wie Syrien oder Libyen veranschaulichen exemplarisch, was mit Staaten passiert, die ihre eigene Selbstbestimmung nicht mehr verteidigen können - sie werden zum Spielball aller Hegemone.
Denn, wie die Neorealistische Schule richtig erkannt hat, machtpolitische Interessen sind (neben Wirtschaftspolitik) die wohl wichtigste Komponente, die die Verhaltensweisen von Staaten erklärbar und teilweise sogar vorhersehbar macht.

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