Ansicht umschalten
Avatar von Teletrabi
  • Teletrabi

mehr als 1000 Beiträge seit 17.03.2003

Re: Zweit- und Erstschlag

wa schrieb am 27.05.2024 18:00:

Fuer das Funktionieren der MAD-Doktrin [1] gibt es ein paar Bedingungen:

1. Man hat ein Bedrohungspotenzial, vor dem sich der Gegner genug fuerchtet, um seine Realisierung nicht herausfordern zu wollen.
2. Man ist sowohl in der Lage wie auch entschlossen, auf einen Erstschlag mit einem Zweitschlag zu reagieren, der die Bedingung von Punkt 1 erfuellt.
3. Man ist in der Lage, das Ausfuehren eines versehentlichen Zweitschlags in Abwesenheit eines Erstschlags zu verhindern bzw. rechtzeitig zu unterbrechen.

Wie wir wissen [2], gab es waehrend des Kalten Kriegs auf beiden Seiten Fehlalarme, die zum Anlaufen des jeweiligen Zweitschlagsprotokolls fuehrten. Der wohl bekannteste Fall war 1983 [3]. Es blieb jeweils genug Zeit, um die Fehlalarme als solche zu erkennen, und den vermeintlichen Zweitschlag, der ungewollt zum Erstschlag geworden waere, zu verhindern.

Kuerzere Angriffswege, schnellere Erstschlagswaffen, und reduzierte Moeglichkeiten der Fernerkennung fuehren alle dazu, dass die Zeit zum Erkennen und Verhindern von Fehlalarmen schrumpft. Damit steigt das Risiko, dass ein Fehlalarm nicht mehr rechtzeitig erkannt wird, und das obige Katastrophenszenario eintritt.

Weiter gehoert zur perversen Logik von MAD, dass, obwohl ein Zweitschlag alles noch viel schlimmer macht, Punkt 2 erfordert, dass dieser Zweitschlag, sollte es zu einem Erstschlag kommen, mit Sicherheit durchgefuehrt wird.

Soweit mein Verstaendnis der Logik von MAD.

Ich halte Putin fuer einen soweit rationell denkenden Menschen, der, egal wie skrupellos er sein mag, kein Verlangen verspuert, fuer einen/den Weltuntergang mitverantwortlich zu sein. Da er MAD sicher viel besser versteht als ich, werden ihm solche Ueberlegungen nicht fremd sein. Ich halte es fuer moeglich, dass er beim Vordringen der NATO weniger die Gefahr eines Angriffs, sondern den Verlust der fuer Punkt 3 noetigen Puffer fuerchtete. So seltsam das auch klingen mag, koennte der russische Angriff auf die Ukraine in diesem Sinne ein Versuch gewesen sein, die globale Sicherheit zu wahren. Das aber nur als Gedanke am Rande.

Wenn der Westen sich nun daran macht, die russischen Fruehwarnsysteme quasi zu blenden, bedeutet das, bestenfalls, dass bei einem Fehlalarm weniger Information zur Verfuegung steht, die einen Fehler erkennen lassen koennte. Schlimmstenfalls bedeutet es, dass die erste Warnung deutlich spaeter kaeme, und fuer das Erkennen eines Fehlalarms kaum oder keine Zeit mehr bliebe. Punkt 3 waere damit ausser Kraft gesetzt, und das Gebaeude von MAD, das die Menschheit trotz all seiner Schrecklichkeit gut 60 Jahre lang vor dem kollektiven nuklearen Selbstmord bewahrte, wuerde zusammenbrechen.

Schlimmer noch, statt auf den fatalen Fehlalarm zu warten, koennte der Westen beschliessen, dieser Gefahr mit einem Erstschlag zu begegnen, evtl. auch in der Hoffnung, dass die Fruehwarnsysteme nun zu spaet fuer einen gemaess Punkt 2 wirkungsvollen Zweitschlag reagieren wuerden.

Immerhin liesse sich die Situation entschaerfen, wenn Russland rasch ueberzeugend darlegen koennte, dass diese Zerstoerungen das korrekte Funktionieren des Fruehwarnsystems, ausreichend Bedenkzeit mit eingeschlossen, nicht nennenswert beeintraechtigen.

Ausserdem muessen weitere Angriffe dieser Art verhindert werden. Es stellt sich lediglich die Frage, ob wir im Westen noch in der Lage sind, unsere eigenen Kriegstreiber von weiteren Irrsinnstaten abzuhalten.

- Werner

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Mutual_assured_destruction
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_close_calls
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/1983_Soviet_nuclear_false_alarm_incident

Letztlich hätte Europa schon Bush in den ABM-Vertrag zurückprügeln müssen oder im Selbsterhaltunginteresse geschlossen au der NATO austreten müssen.. Hat sich mal wieder keiner getraut. Stattdessen hat man sich vom britischen Schoßhündchen Schauermärchen von iranischen Raketen erzählen lassen, obwohl Bush den ABM-Ausstieg schon im Wahlkampf 2000 lange vor 9/11 und den Nahost-Abenteuern, die dann als Alibi dienten, ankündigte.
Damit fing der ganze Mist doch an. RUS kann sich natürlich nicht einseitig durch eine Raketenabwehr das Abschreckungsgleichgewicht aushebeln lassen. Folglich die Entwicklung von Hyperchallwaffen und Stationierung von Mittelstreckenraketen möglichst nah zur osteuropäichen Raketenabwehr, um diese im Bedarfsfall unwirkam zu machen. Kompensiert vorrübergehend das Problem, aber nur bis die USA mit eigenen Hyperschall-Waffen in Europa nachziehen. Reultat letztlich deutlich gesenkte Reaktionszeiten, gefährliche Lage zu Lasten Euopas wie nie zuvor..
Wenn sich jetzt noch zeigt, dass von der Ukraine aus die russichen Frühwarneinrichtungen tatsächlich gut anzugreifen sind, verschärft da die Situation noch einmal.
Wenn man der perfiden Logik folgt, ist ein versehentlicher Atomkrieg auf lange Sicht unvermeidbar und wird zunehmend wahrscheinlicher. Damit wird es aus amerikanischer Sicht vielverprechender, ihn zu führen, solange man eine temporäre Überlegenheit zu haben glaubt...

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (28.05.2024 09:18).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten