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  • microB

mehr als 1000 Beiträge seit 14.04.2000

das tut weh!

Mann oh Mann, der Artikel ist schlimm!
Ich habe kaum je so viele Fehler auf einer Seite gesehen.

Wenn man den Inhalt des Links auf die Wikipedia-Seite zum Thema
"Epigenetik" in Rechnung stellt, hätte der Artikel eigentlich schon
besser ausfallen müssen. Außerdem gab es auch in Telepolis schon
einige informative Artikel zum Thema "Epigenetik".

Zunächst mal ganz allgemein: "Klassische" Genetik beschreibt die
Weitergabe von Merkmalen zwischen aufeinanderfolgenden Generationen
von Lebewesen als Auswirkungen von physischen Veränderungen der
DNA-SEQUENZ.

Manche Beobachtungen lassen sich mit diesem Konzept nicht in Einklang
bringen. Einige davon sind so alt wie das Konzept der mendelschen
(und nicht der darwinschen!) Vererbung (z.B. die "Penetranz" eines
Merkmals als Maß für die Ausprägung des Phänotyps bei den Trägern
einer bestimmten Genvariante (Allel)), andere wurden, wie das im
Artikel beschriebene Beispiel, erst in neuerer Zeit gemacht.

Man weiß heute über das Verhalten von Genen, ihre Weitergabe und ihre
direkten regulatorischen Wechselwirkungen eine ganze Menge. Nicht
weniger ist über die Regulation von Genprodukten (Proteinen) bekannt.
Im Bereich dazwischen gibt es jedoch eine ganze Reihe von "blinden
Flecken": Man weiß zwar, daß sich etwas abspielt und daß diese
Beiträge wichtig sind, konnte aber bisher wenig über die
zugrundeliegenden Mechanismen in Erfahrung bringen. Um klar zu
machen, daß diese Erscheinungen nichts mit der Sequenz der
untersuchten Gene zu tun haben, verwendet man zusammenfassend den
Begriff einer "epigenetischen Vererbung".

Zu den Mechanismen, die in diesem Zusammenhang wirksam sind, gehören
z.B. das Muster chemischer Modifikationen an der DNA (z.B. die
Methylierung einzelner Basen), die Assoziation der DNA mit Histonen
(DNA-bindenden Proteinen, die für die dichte Packung von DNA im
Zellkern nötig sind), die Auswirkungen die ein spezifisches Faltungs-
oder Kondensationsmuster auf die Expression mancher Eigenschaften
hat, die Wechselwirkung von chromosomaler DNA mit RNA-Fragmenten
u.v.m..
Geht man das Phänomen nicht von der Seite molekularer Vorgänge,
sondern von der Seite beobachteter Wirkungen an, so hat sich der
Begriff "epigenetische Vererbung" vor allem für Phänomene
eingebürgert, bei denen durch (Umwelt-)Einflüsse auf ein Elter
Merkmale der nachfolgenden Generation(en) variiert werden, ohne daß
es dabei zu einer erkennbaren Mutation kommt. Für alle mir bekannten
Beispiele gilt, daß sie sich experimentell in einem physiologischen
Kontext vorläufig kaum fassen lassen und handfeste
Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen einem Phänomen epigenetischer
Vererbung und einem molekularen Mechanismus äußerst rar sind.

Genau an diesem Punkt setzt die zitierte Arbeit ein Highlight.
Bisher hatte man nur eine lange Reihe postulierter Fälle
"epigenetischer" Vererbung, bei denen ein auf das Individuum
wirkender Einfluß sich auf die Eigenschaften nachfolgender
Generationen auswirkte, ohne daß echte Mutationen identifiziert
werden konnten. Beispiele sind etwa die Vererbung von Diabetes Typ2,
(Altersdiabetes) durch Mütter mit Schwangerschaftsdiabetes, die
zunehmende Körpergröße von Menschen in den Industrienationen, bzw.
die Auswirkungen von schweren Hungerperioden schwangerer Frauen auf
Körpergröße und Organentwicklung der nachfolgenden Generation(en).

Die Autoren des Science-Artikels haben ein System etabliert, in dem
ein definierter Reiz eine reproduzierbare, meßbare epigenetische
Antwort erzeugt. Damit ist die Tür zu einem molekularen Verständnis
der beteiligten Mechanismen ein gutes Stück aufgegangen: Man kann
ganz gezielt untersuchen, was der externe Reiz (Exposition) in einem
klar umgrenzten Zielgewebe (endokrines System, Gonaden des Fötus)
bewirkt.

Wie die Autorin von diesem ziemlich komplexen Sachverhalt den Bogen
zu Lamarck gefunden hat, ist mir schleierhaft.

Lamarck postulierte, daß sich Organismen individuell mit ihrer Umwelt
auseinandersetzen und die dabei erzielten Anpassungen bis hin zum
erworbenen Fachwissen an die nachfolgenden Generationen physisch
weitervererbt werden. Für Lamarck schreibt das Leben zielgerichtet
ständig neue Informationen in die DNA des Erbgutes.
Zugunsten der Autorin läßt sich vielleicht folgendes anführen:
Eines der Argumente, das zu Lamarcks Zeiten für die Theorie ins Feld
geführt wurde, betraf die Beobachtung, daß sich Mensch an Arsenik
gewöhnen und am Ende ein Vielfaches der ursprünglich tödlichen Dosis
vertragen. Mehr noch: Sie entwickeln im Laufe der Zeit eine Art
Abhängigkeit von dem Gift und leiden unter Entzugssymptomen, wenn die
Zufuhr stockt. Arsenik war damals ein weit verbreitetes Umweltgift,
das sich in der Nähe von Hüttenwerken als mehliger Belag
("Hüttenrauch") in Schornsteinen und auf Dächern niederschlug.
Kinder, die das Pech hatten, an einem solchen Ort aufzuwachsen,
zeigten, ähnlich wie ihre Eltern, eine höhere Toleranz gegenüber
Arsenik als unbelastete Menschen und schienen deshalb Lamarcks These
zu bestätigen.

Heute sind wir in diesem Punkt besser informiert. Die Toleranz
gegenüber Arsenik ist eine individuell erworbene Eigenschaft, die
teuer bezahlt wird und nicht an die Kinder weitervererbt werden kann.
Es handelt sich um eine Anpassung des zellulären Stoffwechsels, die
jeder unabhängig von anderen erwerben muß.

Epigenetische Vererbung schließt, bildlich gesprochen, eine Lücke
zwischen weitgehend unumkehrbaren, in DNA festgeschriebenen
Mutationen und einer Anpassung des zellulären Stoffwechsels, die
schnell wieder zurückgenommenen werden kann. Sie erlaubt die in
evolutionären Zeitäumen mittelfristige, im Prinzip REVERSIBLE
Anpassung an Umweltfaktoren wie z.B. das Nahrungsangebot. Es handelt
sich also um eine interessante Erweiterung des "genetischen
Werkzeugkastens", stellt aber in keiner Weise die bisher entdeckten
Regeln der Vererbungslehre oder der Evolutionstheorie in Frage.

microB

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