Der heute nahezu unbekannte Henry Petty-FitzMaurice, der 5. Marquess of Lansdowne wurde seitens seiner Regierung und eines überwältigenden Teils der Presse übelst als Vaterlandsverräter und Liebling des Feindes beschimpft. Was war sein Vergehen? Er schrieb 1917 einen Leserbrief an die Times, in dem er für einen Verhandlungsfrieden mit Deutschland warb. Die Times druckte seinen Beitrag nicht ab, weil die britische Regierung diesen Beitrag ablehnte. Der Leserbrief wurde im Daily Telegraph veröffentlicht und fand breite Zustimmung in der Öffentlichkeit, nicht aber in der „freien“ Presse. So war es für die britische Regierung einfach, den Willen des Volkes zu ignorieren und weiter unter Verlängerung des Leidens und des Mordens und des Hasses einen totalen Sieg über Deutschland anzustreben.
Warum?
Der "Blutzoll" des ersten Weltkrieges war wesentlich größer, als man annimmt, beschränkte sich - wie in der Ukraine - aber schwerpunktmäßig auf Soldaten. Etwa 50% der männlichen Franzosen, die 1914 18 bis 30 Jahre alt waren, starben in diesem Krieg. Von den gleichaltrigen Deutschen und Briten starben etwa 35% bis 40%. Der erste Weltkrieg löschte also wesentliche Anteile einer ganzen Generation Männer aus. Und dies betraf nicht nur das "einfache" Volk. Der deutsche und britische Adel musste anteilig sogar noch höhere Verluste hinnehmen (über 50%).
Warum wurde nicht verhandelt? Warum das Streben nach Siegfrieden?
Selbst im zweiten Weltkrieg gibt es Beispiele dafür, dass das Anbieten von Bedingungen bei Kapitulation die Anzahl der Opfer auf beiden Seiten deutlich reduziert. Hier sei als Beispiel die Stadt Graudenz genannt, die sich nach Verhandlungen der Roten Armee ergab. Es gab also auch im zweiten Weltkrieg und selbst zwischen Wehrmacht und Roter Armee Alternativen zu „bedingungsloser“ Kapitulation.
Und noch etwas: Nach den „bedingungslosen“ Kapitulationen Deutschlands und Japans wurden nicht etwa alle Kriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen.
Im Gegenteil: Klaus Barbie (und andere Folterknechte), KZ-Ärzte, Fremde Heere Ost usw. usw. wechselten einfach die Seiten (oder – ketzerisch betrachtet: blieben auf der selben Seite) und wurden von den westlichen Siegermächten in ihren ursprünglichen Funktionen weiter „beschäftigt“.
Ein bemerkenswertes Beispiel über bestialische, nach dem Krieg bei den Siegermächten ohne Probleme weiter beschäftigte KZ-Ärzte ist Hubertus Strughold. Dieser führte im KZ Dachau Menschenversuche (Unterdruckversuche, um zu erkennen, ab welcher Flughöhe Sauerstoffgeräte benötigt werden ...) durch, bei denen viele Probanden unter großem Leiden starben und beim Sterben seziert wurden.
Herr Strughold arbeitete nach Kriegsende ohne irgendwie behelligt zu werden, bei der NASA. Ihm wurde nach seinem Tod 1986 eine Gedenktafel als großer Pionier der NASA gestiftet...
Der Wikipedia-Eintrag für Hubertus Strughold beginnt wie folgt: "
Hubertus Strughold war ein deutscher Luftfahrtmediziner und Pionier der Raumfahrtmedizin
". So kann man es auch ausdrücken...
Nazi-Richter bleiben in Amt und Würden und konnten noch bis in die 1960ger Jahre bei den Staatsschutzsenaten Kommunisten (oder mutmaßliche Kommunisten) terrorisieren. In den selben Gerichtssälen haben die selben Richter, die selben Angeklagten mit z.T. den selben Gesetzen in der Nazi-Zeit ebenso, wie in den 1950ger und 1960ger Jahren verurteilt. Das nennt man Kontinuität.
Warum dann „Bedingungslose Kapitulation“?
Zusammenfassend sei auf den großen Karl Kraus verwiesen, der es für mich auf den Punkt bringt:
Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein, das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter?... Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat.
Oder Stefan Zweig:
Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte – das falsche Heldentum, das lieber die anderen vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen, wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen der Chor, den sie sich mieteten, all diese „Wortemacher des Krieges“, wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht.
Wer Bedenken äußerte, der störte sie in ihrem patriotischen Geschäft, wer warnte, den verhöhnten sie als Schwarzseher, wer den Krieg, in dem sie selbst nicht mitlitten, bekämpfte, den brandmarkten sie als Verräter.
Immer war es die selbe, feige Rotte durch die Zeiten, die die Vorsichtigen feige nannten, die Menschlichen schwächlich, um dann selbst ratlos zu sein in der Stunde der Katastrophe, die sie leichtfertig beschworen.
Beide Zitate kommen nicht von ungefähr von Menschen, die den ersten Weltkrieg und seine öffentlich geäusserte Kriegsbegeisterung und dem Schulterschluss von Medien und Politik, der Propaganda und der Kriegsprofiteure miterlebt hatten. Es wäre an der Zeit, sich daran zu erinnern.
Was ist zu tun? Ich denke, Arundhati Roy hat hierzu richtige Worte gefunden:
Sich nie an die unsagbare Gewalt und gewöhnliche Ungleichheit des Lebens um sich herum gewöhnen.
Freude auch an den traurigsten Orten suchen.
Die Schönheit bis in ihren Kern verfolgen.
Nie vereinfachen, was kompliziert ist,
und nie verkomplizieren, was einfach ist.
Stärke respektieren, aber niemals schiere Macht.
Vor allem aber hinschauen. Versuchen, hinter die Dinge zu schauen.
Nie den Blick abwenden.
Und niemals vergessen.