Neue Berechnungen haben die Wissenschaft aufgeschreckt - sie legen nahe, dass die Erde empfindlicher auf Treibhausgase reagieren könnte. Fällt die globale Erwärmung stärker aus als bisher angenommen?
Läuft es gut, wird man eines Tages sagen, die Folgen des Coronavirus haben dem Klimaschutz endlich zum Durchbruch verholfen - weil sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass auch die schwersten Krisen mit engagiertem internationalen Handeln zu meistern sind. Läuft es schlecht, werden in den kommenden Monaten mit kurzfristig gedachten Förderprogrammen vor allem die fossilen Wirtschaftszweige gestützt, für den grünen Umbau könnten dann die finanziellen Mittel fehlen.
Wie die Geschichte ausgeht, hängt von den Weichenstellungen der Politik ab. Schon heute feststellen lässt sich allerdings, dass Corona in der öffentlichen Wahrnehmung fast alle anderen Themen verdrängt. Dabei hat die Dringlichkeit des Klimaschutzes nichts an Aktualität eingebüßt, im Gegenteil.
In den vergangenen Wochen gab es immer mal wieder vereinzelte Medienberichte, die zeigten: Womöglich sei das Hauptziel des Pariser Abkommens, nämlich die globale Erwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu stabilisieren, gar nicht mehr zu erreichen. Sie berufen sich dabei auf noch vorläufige Resultate der neuesten Klimamodelle verschiedener Forschungsinstitute. Was steckt dahinter?
Klimamodelle gehören zu den wichtigsten Werkzeugen der Klimaforschung. Diese Modelle sind über Jahrzehnte entwickelte, hochkomplexe Rechenprogramme, die die Abläufe in unserer Atmosphäre, den Ozeanen und auf den Landoberflächen auf Basis der Gesetze der Physik simulieren. Es gibt rund 100 dieser Modelle, ständig weiterentwickelt von rund 50 Forschungszentren in aller Welt. Sie laufen auf den schnellsten Hochleistungsrechnern der Erde - teils Monate lang, um eine einzige Klimasimulation zu erstellen.
Rund alle fünf Jahre verabreden diese Forschergruppen einen Satz von Standardexperimenten, die sie zu Vergleichszwecken mit ihren Modellen durchrechnen (im Rahmen von CMIP, dem Coupled Model Intercomparison Project). Diese Berechnungen bilden eine wichtige Basis für die Zukunftsprojektionen der Klimaentwicklung, die in den Berichten des Weltklimarats IPCC vorgestellt werden und Grundlage der globalen Klimapolitik sind.
Die Erde könnte viel empfindlicher auf Anstieg der CO2-Emissionen reagieren
Doch die bisherigen Resultate der neuesten Modellgeneration, CMIP6, haben die Forscher kalt erwischt - oder besser gesagt: heiß. Gleich mehrere der Modelle sagen für die üblichen Emissionsszenarien eine deutlich stärkere globale Erwärmung vorher als die früheren Modellgenerationen der letzten Jahrzehnte. Bislang ging die Klimawissenschaft davon aus, dass eine Verdoppelung der CO2-Menge in unserer Atmosphäre eine Erwärmung von rund drei Grad nach sich ziehen würde - mit einer Unsicherheit von bis zu 1,5 Grad.
Diese Kennzahl ist als Klimasensitivität bekannt. Der erste Versuch, sie zu berechnen, stammt aus dem Jahr 1896 vom späteren schwedischen Nobelpreisträger Svante Arrhenius, der damals auf vier bis sechs Grad kam - allerdings aus heutiger Sicht mit einigen Fehlern in der Berechnung. Die modernen Belege, dass die Klimasensitivität höchstwahrscheinlich im Bereich von zwei bis 4,5 Grad liegt, stammen nicht nur aus Computermodellen, sondern beruhen auch auf Daten aus der Erdgeschichte. Die zeigen, wie empfindlich das Erdklima früher auf bestimmte Störungen reagiert hat (ein Beispiel sind die Eiszeitzyklen durch Veränderung der Erdbahn um die Sonne).
Doch nun zeigen 14 der 40 bislang analysierten neuesten Modelle auf einmal eine Klimasensitivität von mehr als 4,5 Grad an, sieben davon sogar über fünf Grad. Der Mittelwert aller bislang ausgewerteten Modelle liegt bei 3,8 Grad und damit um 0,6 Grad höher als bei der vorherigen Modellgeneration CMIP5. Übersetzt bedeutet das: Laut den Modellen reagiert die Erde deutlich empfindlicher auf die Emission von Treibhausgasen und erwärmt sich schneller als gedacht. Wenn das stimmt, müssten wir den CO2-Ausstoß noch schneller herunterfahren, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu halten - das CO2-Budget, das uns noch zur Verfügung steht, würde kleiner.
Doch stimmen die Berechnungen? Endgültig kann man diese Frage noch nicht beantworten - die Analyse der Modelle läuft noch. Es gibt aber bereits erste Ergebnisse. Eine kürzlich erschienene Studie einer Gruppe um Mark Zelinka vom Lawrence Livermore National Laboratory in den USA konnte den Grund der hohen Empfindlichkeit der Modelle isolieren: Es liegt hauptsächlich an der Reaktion der niedrigen Wolkenschichten über dem Südpolarmeer.
Nun haben Klimamodelle - wie alle Rechenmodelle - ihre Stärken und Schwächen, und das Südpolarmeer gehört zu den Problemzonen. Das könnte daran liegen, dass die meisten Modelle den laufenden Kontinentaleisverlust in der Antarktis nicht berücksichtigen. Dass viele Modelle hier schwächeln, verrät uns aber noch nicht, welche näher an der Wahrheit liegen: die empfindlichen oder weniger empfindlichen Modelle?
Welche Modelle näher an der Wahrheit liegen, wissen wir noch nicht
Das versucht eine zweite Studie zu beantworten, die den globalen Temperaturverlauf im 20. Jahrhundert in den Modellen mit den Beobachtungsdaten vergleicht. Das ist ein Standardtest für Klimamodelle - und die bisherigen Modelle stimmen in dieser Hinsicht gut mit den Messdaten überein. Besonders bemerkenswert ist, dass schon frühe Modellrechnungen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren die globale Erwärmung bis heute korrekt vorhergesagt haben - zu einem Zeitpunkt, als noch gar keine Erwärmung beobachtet wurde. Und übrigens auch die Forscher der Ölfirma Exxon. Die früheren Klimamodelle haben zwar manche Folgen der Erwärmung - wie Eisschmelze und Meeresspiegelanstieg - unterschätzt, doch bei der Entwicklung der globalen Mitteltemperatur lagen sie richtig.
Die Vergleichsstudie von Forschern der Universität Exeter zeigt nun, dass insbesondere die Erwärmung seit 1975 - also der größte Teil der modernen globalen Erwärmung - in den empfindlichen Modellen deutlich zu stark ausfällt. Neuere Analysen der ETH Zürich, für die bereits mehr Modelle ausgewertet werden konnten, bestätigen diese Folgerung. Das ist ein Grund zum Aufatmen: Derzeit spricht einiges dafür, dass diese Modelle nicht besser als die alten, sondern einfach zu empfindlich sind. Weil diese sehr neuen Modelle noch nicht gründlich getestet und analysiert sind, kann man zwar noch keine abschließende Bewertung abgeben - nach heutigem Stand sehe ich aber noch keinen Grund, die bislang akzeptierte Abschätzung der Klimasensitivität aufzugeben.
Doch wir sollten nicht vergessen: auch auf Basis der bisherigen, etwas weniger hohen Abschätzung der Klimasensitivität brauchen wir sehr rasch eine ganz erheblich ambitioniertere Klimapolitik, um die Paris-Ziele noch einzuhalten und teure Folgeschäden, massives menschliches Leid und unwiederbringliche Verluste von Tier- und Pflanzenarten zu verhindern.
co.//Stefan Rahmstorf