Re: Der Kapitalismus ist ein schöner Sündenbock

Also bleibt die Frage, will das Volk eventuell sogar diese 'interessanten Zeiten' und ist es am Ende demokratriemüde ist?

Ich sehe nicht, wie man zu diesem Schluss kommen könnte. Man kann es stattdessen auch mit ein bisschen Psychologie versuchen: "dem Volk" ging seit den TV-Bildern aus Bergamo der Allerwerteste auf Grundeis, wie es so schön heißt, weil insbesondere die soziale Gruppe, die aufgrund ihrer Wahlbeteiligung und Stärke jede Wahl dominiert, Angst um ihr Leben hatte. Das sind primär, um wohl mit dem Hr Nowak zu sprechen, die Bourgeoisie und die Rentiers de l'état, wohl situierte 50+ und Silver Ager, die sich von der Gesellschaft mit üppigen Renten und Pensionen päppeln lassen. Zur Hilfstruppe der Bourgeoisie gehörten schon immer "Salonrevolutionäre" (Hr Nowak, von Ihnen ist die Rede!), die, so kann man vermuten, ihr schlechtes Gewissen aufgrund der unpassenden Abstammung (keine Proletarier!) und sozial gesicherter Position (öffentlicher Dienst, Gewerkschaft!) damit kompensieren, dass sie einen sozial total gerechten Lockdown, so hart wie ihn noch niemand jemals erlebte, fordern. Die Fr Wagenknecht trifft diesbezüglich mit ihrer Kritik den Nagel auf den Kopf, nur hat natürlich auch sie ihren politischen Vorteil im Kopf und versucht daher, im braunen Sumpf zu plantschen. Zu dieser sozialen Gruppe gehören aber definitv nicht die Alleinerziehenden mit kleinen Kindern in womöglich sozial problematischer Situation, dazu gehören auch nicht die Alten in den viel beschworenen Risikogruppen etc, die doch eigentlich der antikapitalistischen Linken am Herzen liegen. Weshalb dann auch die Corona-Politik so gelaufen ist, wie sie gelaufen ist, nämlich ohne jegliche Rücksichtnahme auf die sozial Schwächeren, Kinder und Jüngere, und weshalb gerade die Linke noch Härteres gefordert hat, ohne jemals zu erklären, wo die soziale Komponente insbesondere für Kinder bleiben würde.

Und wenn "das Volk" Angst verspürt, dann ist ein Populist wie der Hr Söder nicht weit, um ihm die Rettung zu versprechen, wenn es nur das Denken einstellt und ihm blind vertraut und folgt. Man braucht hier nur durch das Forum blättern, um das konsequente Einstellen des Denkens verfolgen zu können. Das Problem ist halt, dass weder der Hr Söder noch der Hr Spahn noch der Hr Wieler noch irgendein Virologe und Mediziner liefern kann, womit sich dann so merkwürdige Umfrageergebnisse erklären lassen, dass immer mehr (angeblich) eine Impfpflicht befürworten, aber immer weniger mit der Corona-Politik generell zufrieden sind. Und man versteht das Problem "der Politik": sie müsste jetzt "dem Volk" erklären, dass es ihm die Märchen aus 1001 Corona-Nacht erzählt hat, aber jetzt haargenau weiß, was zu tun ist. Da bietet es sich stattdessen an, einen Sündenbock zu prügeln, weil ja ein großer Teil "des Volkes" das Denken sowieso schon eingestellt hat und gar nicht mehr bemerkt, dass die Vorwürfe an den Sündenbock völlig frei von jeder Logik sind.

Ich sehe nicht, dass man dies in irgendeiner Weise mit einer "demokratiemüden" Wählerschaft erklären kann. Mit einer denkfaulen, das ja. Und wenn eine denkfaule Wählerschaft auf einen Populisten trifft, dann ist die Gefahr groß, dass die Wählerschaft gar nicht bemerkt, dass sie "demokratiebefreit" wird, obwohl sie das gar nicht wollte. Demokratie ist nun mal anstrengend.

PS: Die Erkenntnis des Hr Söder, dass es um seinen Job geht, weil er nicht liefern kann, ist auch die Erklärung für sein Damaskus-Erlebnis der letzten Tage. Der bisher größte Eigenschnörkelchendreher unter den Landesfürsten hat urplötzlich seine unbändige Liebe zu Bundesgesetzen entdeckt und setzt alles daran, dass die neue Koalition ihm exakt vorschreibt, was er künftig zu tun hat. Es wird doch nicht womöglich so sein, dass er sich dahinter verstecken will, so dass der Wähler dann auf die Bundesregierung böse ist und nicht mehr auf ihn? Honi soit qui mal y pense ...