Merit Order ist eben nicht "ein wesentliches Prinzip der Preisbildung an den Stromgroßhandelsmärkten", sondern das Prinzip für jede Börse.
Da erklärt er es im ersten Absatz sogar richtig, formuliert es im zweiten aber doch wieder so, als wär es eine Besonderheit des Strommarkts.
Investitionskosten werden nicht vom Markt berücksichtigt, sondern vom Verkäufer.
Der weiß am besten, wie er seine Investitionen amortisieren muss und kann seinen Preise entsprechend gestalten - tut er es nicht, bietet er zu teuer an und kommt nicht zum Zug, oder er bietet zu billig an und geht pleite, weil er die Investitionskredite nicht zurückzahlen kann bzw. wenn eigenfinanziert, weil er am Ende der Kraftwerkslebensdauer keine Rückstellungen für den Bau der nächsten Kraftwerksgeneration zurückgelegt hat (ein Problem, das den Franzosen mit ihrem AKW-Park gerade sehr hässlich auf die Füße fällt).
(Schon von Anderen bemerkt) Nicht die kontinuierlich günstigsten Kraftwerke werden zuerst genommen, sondern die für die nächsten 15 Minuten.
Sie werden auch nicht zugeschaltet, da ist kein technischer Schaltvorgang im Spiel - als Modellvorstellung taugt das, aber das hätte der Artikel erwähnen müssen oder er hätte zumindest sagen müssen, dass die Darstellung nur eine Analogie ist.
Es stimmt nicht, dass es nach den Grenzkosten geht.
Es geht nach den Angebotspreisen.
Die laufen oft auf die Grenzkosten hinaus, aber das ist kein Naturgesetz - wenn da ein ganzes Rudel ähnlicher Kraftwerke anbietet, werden die alle ihre Investitionskosten irgendwie einpreisen und dann sind es eben *nicht* die Grenzkosten.
(Das ist im Grunde nur ein Neuaufguss des zweiten Absatzes.)
Außerdem sind selbst bei Vernachlässigung der Investitionskosten nicht die Grenzkosten im Angebot, sondern ein bisschen mehr - der Anbieter muss Rücklagen für Sonderausgaben bilden, und die Aktionäre sollen ein bisschen Gewinn sehen.
Der Satz "Die Annahme hinter dem Merit-Order-Modell ist, dass Kraftwerksbetreiber immer ihre Kosten für die nächste produzierte Megawattstunde decken wollen, sonst würden sie diese nicht produzieren" ist schlicht falsch.
Das Herunter- und Hochfahren eines Kraftwerks kostet Geld. Und zwar relevant viel Geld: Es kann sich für einen Betreiber lohnen, sogar noch Geld für den eingespeisten Strom zu zahlen, wenn Abschalten und Neustarten teurer wäre. (So und nicht anders kamen die gelegentlichen negativen Strompreise an der Börse zustande.)
"Langfristig wird kein Kraftwerksbetreiber daran interessiert sein, Strom nur zu Grenzkosten zu verkaufen. Damit auch in Zukunft in den Kraftwerkspark investiert wird und neue Kraftwerke gebaut werden, muss das Strommarktmodell weiterentwickelt werden."
Oh, das Scheunentor ist so weit offen, das Jehle da einrennen will. Es werden ja eben nicht die Grenzkosten genommen, sondern die Angebotspreise, und jeder Anbieter legt selber fest, wie weit er über die Grenzkosten muss.
Frankreich vs. Deutschland: Nee, Merit Order verhindert ja, dass die Franzosen ihren AKW-Strom verkauft kriegen, alle anderen Stromanbieter sind ja billiger.
Sollten die Franzosen aber tatsächlich so viel Strom brauchen, dass auch teurere Kraftwerke zugeschaltet werden müssen, zieht das auch bei uns die Strompreise hoch.
Andersrum werden aber bei ausreichendem Angebot die Börsenpreise stark sinken und die Franzosen kriegen ihren teuren AKW-Strom auf gar keiner Strombörse mehr platziert.
Das mit dem Lastabwurf geht auch mit Merit Order. Das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun: Ein Stromanbieter ist ja nicht gezwungen, den Börsenpreis anzubieten, der ist nur die Grundlage für ihre eigenen Preiskalkulationen.
Merit Order wirkt sich auch überhaupt nicht auf Sektorenkopplung und bidirektionale Stromnetze aus - diese Dinge ändern den Bedarf und ein bisschen auch das günstigste Angebot, aber der Preisbildungsmechanismus ist davon völlig unberührt!
Sorry, das ist ein schrecklich ärgerlicher Artikel, der Korrektes, Halbwahres und Irreführendes so sehr durcheinandermischt, dass der Leser am Ende schlechter informiert ist als vorher.