Ansicht umschalten
Avatar von klausgh
  • klausgh

836 Beiträge seit 23.04.2008

"Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser."

Das Zitat aus Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ fällt mir in letzter Zeit häufiger ein. Vielleicht liegt es auch an der ersten Zeile:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Brecht schrieb (im Exil) das Gedicht vor dem Hintergrund des Faschismus in Deutschland und vielen weiteren Ländern Europas. Mit der Anrede „An die Nachgeborenen“ brachte er seine Hoffnung auf bessere Zeiten zum Ausdruck.

Ich bin ein „Nachgeborener“. Aber hat die Hoffnung Brechts Erfüllung gefunden? In meinen nun mehr als 70 Jahren habe ich wieder Unterdrückung, Mord, Krieg, Folter etc. erlebt. Von Vietnam über die hunderttausende ermordeter Menschen in Indonesien, Chile, Argentinien bis zu Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Syrien und Libyen – um nur einige Beispiele zu nennen.

So verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war.

In fast all diesen Fällen, ebenso wie bei der „Sicherung“ von Rohstoffquellen, der Spekulation auf Lebensmittel, der unfairen „terms of trade“ etc. waren es fast immer die gleichen Nutznießer, die nicht nur passiv von den Konflikten profitierten, sondern diese Konflikte meist recht aktiv förderten.

Ich stamme aus einer deutschen Familie, die positive Kontakt zu ihren jüdischen Nachbarn unterhielt. Nein, meine Vorfahren haben keine Juden versteckt, was in einem Dorf mit Nazi-Mehrheit kaum möglich gewesen wäre. Ich habe von meinen Eltern und Großeltern Respekt und Sympathie gegenüber dem Judentum gelernt. Vor Jahrzehnten hat mein Studentenpfarrer mir klargemacht, dass Christentum nur vor dem Hintergrund des Judentums verstanden und gelebt werden kann.

Ja, das Judentum und das Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat sind für mich existenziell wichtig. Aber sind nicht auch die Vorfahren vieler Palästinenser Juden? Nach dem Fall Jerusalems und der Zerstörung des Tempels verließen ja nicht alle Juden das Land. Ihre Nachfahren leben bis heute dort. Eretz Israel ist seit Jahrtausenden besiedelt und die Menschen dort müssen miteinander leben. Insbesondere müssen in Palästina Alteingesessene und (seit einigen Jahrzehnten) neu angesiedelte Juden gemeinsam Platz finden. Was nur möglich ist, wenn sie aufeinander Rücksicht nehmen.

Ich plädiere für ein Recht von Juden und Palästinensern auf ihre Staatlichkeit in Palästina. Nur so ist eine Zukunft für beide Parteien möglich. Wer auch immer innerhalb oder außerhalb Palästinas / Israels lediglich eine Partei / Position unterstützt, gefährdet das Leben aller Menschen in dieser Region.

Als Deutsch haben wir – angesichts unserer Geschichte – freilich eine besondere Verantwortung gegenüber jüdischen Menschen und im Kampf gegen Antisemitismus. Aber muss nicht auch der Kampf gegen Antisemitismus sich gegen die Feindschaft gegenüber anderen „semitischen“ ethnischen Gruppen einschließen.

Wer die konfrontationsfördernde und eskalierende Politik einiger Gruppierungen innerhalb des Staates Israel zum Maßstab nimmt und für solche (hochgefährlichen) Positionen einseitig Stellung nimmt, gefährdet nicht nur den Frieden in der Region, sondern setzt auch das Leben tausender jüdischer Menschen weltweit aufs Spiel.

Nicht Verbot palästinensischer Gruppen kann die Antwort sein, sondern der Versuch beide Seiten miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn „auch Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser“. Danach bliebe nur noch festzustellen:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Bewerten
- +
Ansicht umschalten