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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Traumatisierte Gesellschaften

Gewalt jeglicher Art (abgesehen von Notwehr), sexueller Mißbrauch, Übergriffigkeit jeder Art, strukturelle Gewalt in den »Gesellschaften« – all das sind keine Phänomene, die einfach sozusagen »vom Himmel fallen«. Es handelt sich vielmehr um Symptome einer seit Jahrtausenden üblichen psychischen Traumatisierung von Kindern und Erwachsenen.

Ob Menschen sich kooperativ verhalten oder ob sie aggressiv miteinander umgehen, wird in den Köpfen der Beteiligten entschieden und ist damit an die jeweilige Verfassung ihrer Psyche gebunden. Die menschliche Psyche stellt ein hochkomplexes »Software«-Gebilde dar, das sich im Laufe des ganzen Lebens weiter- und fortentwickelt. Maßgebliche Prägungen der menschlichen Psyche werden jedoch bereits in der frühesten Kindheit gelegt, in nicht wenigen Fällen sogar bereits vor der Geburt im Mutterleib.

Diese Struktur sollte dem Menschen eigentlich dazu dienen, sich in seiner Umwelt und in seinem menschlichen Umfeld zu orientieren. Es ist dafür »gedacht«, seinen Träger die Wirklichkeit um ihn herum wie auch die in ihm drin erkennen zu lassen wie auch ihm dabei zu helfen, entsprechende Entscheidungen zu treffen und entsprechende, zielführende Handlungen auszuführen.

In zahllosen literarischen Arbeiten wurde bereits ausführlich über die Ursachen der menschlichen Destruktivität geschrieben, ohne daß nennenswerte Teile der Gesellschaften davon Kenntnis genommen haben. Sachbücher wie die folgende kleine Auswahl werden kaum gelesen:

Noam Chomsky: Wer beherrscht die Welt?
Lloyd deMause: Hört ihr die Kinder weinen?
Erich Fromm: Wege aus einer kranken Gesellschaft
Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität
Peter Levine: Sprache ohne Worte
Peter Levine: Trauma und Gedächtnis
Hans-Joachim Maaz: Der Lilith-Komplex
Alice Miller: Am Anfang war Erziehung
Georg Milzner: Wir sind überall, nur nicht bei uns
Ingrid Müller-Münch: Die geprügelte Generation
Franz Ruppert: Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?
Harald Welzer: Täter – Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden
Rainer Mausfeld: Das Schweigen der Lämmer
Rainer Mausfeld: Angst und Macht
... und viele viele mehr ...

Im oben erwähnten Buch schreibt Franz Ruppert:

Jeder muß dringend wissen, welche Probleme die eigene Psyche bereiten und wie er/sie sich selbst mittels seiner/ihrer Psyche zum Guten entwickeln kann. Damit jeder auf seine Weise auch gesellschaftlich einen Beitrag für die Prävention von Psychotraumata und für ein konstruktiveres Miteinander leisten kann. Niemand muß sich auf längere Sicht von den eigenen inneren Konflikten und den Trauma-Überlebensstrategien anderer dominieren lassen und dadurch sein Lebensglück dauerhaft versäumen. Wenn wir uns insgesamt zum Guten entwickeln wollen, dann dürfen wir das Wissen über unsere Psyche nicht an Experten delegieren, nicht an Politiker, nicht an Religionsstifter oder Seelsorger, nicht an Ärzte und nicht an Psychologen. Die Fixierung auf »Führer«, »Gurus«, »Helden«, »spirituelle« Männer oder »schamanische« Frauen ist ja per se schon wieder eine Trauma-Überlebensstrategie von Menschen, die ihr eigenes Ich aufgeben mußten und jetzt ihr Lebensglück in der Identifikation mit jemand anderem oder einer Heilslehre suchen. Jeder Mensch muß selbst zum Experten seiner eigenen Psyche werden können. Jeder muß selbst für seine Psyche die Verantwortung übernehmen und verstehen wollen, warum er/sie so ist, wie er/sie ist. Und wirklich begreifen, warum andere so handeln, wie sie es tun. Wer sich selbst gleichgültig ist, dem sind leider auch seine Mitmenschen gleichgültig. (Ruppert, S. 51)

In unseren entfremdeten, narzißtischen, normopathischen und daher im Grunde kranken Gesellschaften ist es nicht leicht, sich selbst, nachdem man die sog. Erziehung durchlaufen hat, von den dadurch installierten schlechten Prägungen zu befreien, ja sie überhaupt erst einmal zu erkennen. Die allermeisten Menschen ahnen nicht einmal, wie sehr sie von ihrer – in den allermeisten Fällen beschädigten – Psyche gesteuert und in die Irre geführt werden. Das steht in engem Zusammenhang mit der leidvollen Tatsache, daß wir alle – die einen mehr, die anderen weniger – von frühester Kindheit an dazu gezwungen wurden, Teile unserer sich gerade entwickelnden Psyche abzuspalten, weil sie von den Eltern nicht erwünscht waren.

Eltern haben in der Regel feste Vorstellungen davon, wie ihr Nachwuchs zu sein und zu werden habe. Gewisse Äußerungen schon des Kleinkindes bzw. Säuglings werden vor allem durch die Mutter – meist unbewußt – unterdrückt, indem sie z.B. ärgerlich auf das schreiende Baby reagiert oder dem quengelnden Kleinkind zu verstehen gibt, daß sie sich durch sein akutes Leiden gerade gestört und belästigt fühlt.

Psychische Schäden, die sich in der Kindheit eines Menschen ereignen, bleiben ihm gewöhnlich dauerhaft sein ganzes Leben lang erhalten. Um die Folgen psychischer Traumatisierung überhaupt ertragen zu können, werden auslösende Ereignisse häufig so stark ausgeblendet, daß sie später nicht mehr ohne weiteres erinnert und gefühlt werden können. Ein solcher Schaden wird zur persönlichen traumatischen Lebenserfahrung, wenn bei der auslösenden Erfahrung Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle dominieren, weil die automatischen Streßreaktionen wie Angriff oder Flucht nicht funktionieren, nicht helfen, dieser Situation zu entkommen. Kinder in autoritären Familienstrukturen wissen, daß sie nicht weglaufen und sich nicht wehren können, ergo bleibt ihnen, um das ertragen zu können, nur die innere Erstarrung, das Einfrieren der Todesangst auslösenden Erfahrung und das Abspalten der beteiligten Gefühlsbereiche (Dissoziation). Wenn ein Kind, während es geschlagen wird, weint und den Vater oder die Mutter dadurch noch aggressiver macht, wird dieses Kind sich bemühen, beim nächsten Mal nicht zu weinen, einfach um sich – wenn auch nur ein wenig – vor noch mehr und noch härterer Prügel zu schützen.

Traumatische Lebenserfahrungen rufen unweigerlich Spaltungen zwischen Körper und Psyche hervor; doch auch innerhalb der menschlichen Psyche führen solche Erfahrungen zu Spaltungen: Wahrnehmung, Fühlen, Denken, Wollen, Erinnern und Handeln wirken dann nicht mehr als Einheit zusammen, sondern verarbeiten zunehmend unabhängig voneinander die eingehenden Informationen. Mit einem Wort: Die Selbstorganisation der Psyche funktioniert nicht mehr.

In diesem Trauma-Zustand gerät die Psyche in einen grundsätzlichen Widerspruch zu ihrer eigentlichen Funktion: Statt ihrem Träger die Realität zu erschließen, arbeitet die Psyche darauf hin, die Realität zu verschleiern. Der davon betroffene Mensch verliert so den Kontakt zu seiner Außen- und Innenwelt; er muß fortan mit einer wesentlichen Reduktion seines Realitätsbezugs auskommen. Das führt zur Ausbildung bzw. Erfindung von Ersatzwelten (Kopfgeburten), um diesen Mangel an Realität auszugleichen. Für den Betroffenen hat das den »Vorteil«, daß er glauben kann, die Kontrolle über diese Illusionswelten auszuüben.

Ein psychisch traumatisierter Mensch verfügt jedoch noch immer über mehr oder weniger gesunde psychische Anteile. Die psychische Spaltung bei Traumatisierungen hinterläßt aber auch die weggesperrten, unerwünschten, nicht aushaltbaren Anteile sowie die daraufhin entwickelten Überlebensstrategien wie Vermeidung ähnlicher Situationen, Feindseligkeiten, Bereitschaft zu Feindbildgenese, Neigung zu Gehorsam und Unterwerfung usw. Diese Überlebensstrategien sind lebensrettend und haben deshalb großen Einfluß auf das weitere Leben des Traumatisierten. Überlebensstrategien sorgen dafür, daß wir ständig im Zustand von Gefahr und Angst leben, gerade so, als ob die damalige Traumasituation und die damit verbundene Lebensgefahr noch immer präsent wären. Darunter leidet die Lebensqualität der Betroffen gewaltig, weil sie nie zur Ruhe kommen können: Statt offen wahrzunehmen und zu fühlen, müssen sie ständig machen und tun und leben daher in einem ständigen Übererregungsmodus und einer sich zunehmend verhärtenden Gefühlsunterdrückung. Eigene innere Impulse werden dann oft als bedrohlich erlebt und müssen bekämpft werden.

Das alles führt zu reinem Überleben statt eines gesunden, zufriedenen und erfüllenden Lebens. Gedanken sind dann meist frei von Gefühlen, wodurch die Gedankenwelt den Kontakt mit der Realität verliert. Die Gedanken werden zunehmend abstrakter, sie stehen über der Realität und betrachten das Leben aus einer erfundenen Meta-Position herab. In der milden Form wird daraus ein wissenschaftlich erscheinender Intellektualismus mit höchsten Genauigkeitsanforderungen, im Extrem führt das zu einem unaufhörlichen Gedankenkreisen, zu wildesten Assoziationsketten und dem sog. Wasserfallreden, was der Psychiater dann als Schizophrenie etikettiert.

Da Familien und die Eltern-Kind-Beziehungen der Kernbereich jeder Gesellschaft sind, hat das Auswirkungen über die Familien hinaus. Wenn nämlich aus psychisch traumatisierten Kindern Erwachsene werden, dann tragen sie ihre psychischen Störungen in sämtliche Bereiche einer Gesellschaft hinein: in das Bildungs-, das Arbeits- und das Politiksystem. Sie verbleiben mit einem wesentlichen Teil ihrer Psyche in einer unguten Form von Kindlichkeit verhaftet. Aufgrund ihrer aus der Kindheit stammenden Traumatisierungen können sie die aktuellen Realitäten entweder gar nicht oder nur verzerrt wahrnehmen, fühlen und denken. Sie konstruieren sich ihre eigene Welt und folgen ihren Illusionen und ausgedachten Prinzipien entgegen aller Realität. Sie bleiben in der Scheinwelt ihrer kindlichen Trauma-Überlebensstrategien stecken. (Ruppert, S. 52)

Genau so wie Eltern ihre psychischen Probleme über Bindungsprozesse an ihre Kinder weitergeben und so von einstigen Trauma-Opfern zu Trauma-Tätern werden, machen das auch andere erwachsenen Trauma-Opfer in der jweiligen gesellschaftlichen Position, ob nun als Vorgesetzter in einer Firma, als Beamter in einer Behörde oder als Abgeordneter, Minister oder gar Kanzler in einer Regierung. Häufig treten sie aufgrund ihrer Traumatisierungen »auf dem Feld der Politik auch gerne als besserwisserisch, rechthaberisch und arrogant auf. Andere lassen sich kritiklos von den Partikularinteressen derer finanzieren, die ihnen helfen, an die Macht zu kommen. Wieder andere versuchen, die Gesellschaft vor dem Ruin zu retten, sich für Arme und Schwache einzusetzen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen – so wie sie es schon als Kinder gewohnt waren, ihre traumatisierten Eltern stützen und retten zu müssen oder ihre Geschwister vor der Gewalt ihrer Eltern zu schützen. Politische Gewaltstrategien wählen häufiger die Männer in der Politik, Ausgleich und Harmonisierungsstrategien sind häufiger Frauen vorbehalten.« (Ruppert S. 52)

Die internationalen wie auch die jeweils nationalen Macht- und Gewaltbeziehungen sind Ausdruck und Spiegel der inneren Zerrissenheit und Spaltung der heutigen Menschen, ebenso die Gewalt- und Hierarchiebeziehungen in kleinen Gruppen und persönlichen Beziehungen.

Kaum mehr als eine geschichtliche Erinnerung ist von den großen Hoffnungen übriggeblieben, die ursprünglich mit Demokratie und Völkerrecht verbunden waren, nämlich Hoffnungen auf eine zivilisatorische Einhegung von Macht- und Gewaltbeziehungen. Umso kraftvoller wird die Bevölkerung in der politischen Rhetorik mit einer Demokratie- und Völkerrechtsrhetorik überzogen, mit der die ökonomisch oder militärisch Starken die Zustimmung oder Duldung der Bevölkerung für ihre tatsächliche Praxis einer Realpolitik der Gewalt zu gewinnen suchen. In der Realpolitik hat sich heute längst wieder das Recht des Stärkeren Anerkennung verschafft. Zweihundert Jahre nach der Aufklärung, auf die wir uns in der politischen Rhetorik so viel zugute halten, leben wir in einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung. Zugleich verweisen die Mächtigen gerne, wenn es ihren Machtinteressen dient, auf die Aufklärung, um damit gegenüber denjenigen, die sie als ihre Feinde ansehen, ihre behauptete zivilisatorische Überlegenheit zu bekräftigen. (Mausfeld: Das Schweigen der Lämmer, S. 14/15)

Wenn in Demokratien Politiker gewählt werden, bedeutet das noch lange nicht, daß sie sich an den Interessen ihrer Wähler orientieren. Sie müssen einfach nur versuchen, ihre Ideen von »Wirtschaft«, »Sozialem« oder »innerer Sicherheit« in Parolen zu kleiden, die ihnen möglichst viele Wählerstimmen einbringen. Was sie dann nach einer erfolgreichen Wahl machen, bleibt ihnen überlassen; es gibt kein Gesetz, ein Wahlversprechen auch einzulösen. Realpolitik wird vom Machtzirkel innerhalb der Partei entschieden, aber auch durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftslage sowie das militärische Kräfteverhältnis auf der internationalen Bühne. Traumatisierte Wähler verhalten sich entsprechend und begeben sich in die Position abhängiger Kinder, die Forderungen an ihre Eltern stellen, von denen sie eigentlich wissen, daß am Ende die Eltern das Sagen haben und die Entscheidungen treffen.

Die Entscheidung, das Strafrecht zu verschärfen, um potentielle wie auch aktuelle Täter davon abzuhalten, Kinder sexuell zu mißbrauchen, dient nicht wirklich diesem Zweck, sondern soll die Wähler bzw. die Bevölkerung beruhigen: »Seht her, wir tun etwas, Täter werden in Zukunft härter bestraft werden.« Doch wird das die Täter, die nicht selten in höheren Positionen zu finden sind, wirklich abschrecken? Leser, die sich mit dieser Thematik bereits auseinandergesetzt haben, wissen nur zu gut, daß sich ganz besonders Pädophilenringe davon nicht schrecken lassen. Auch die im familiären Umfeld begangenen Mißbrauchsfälle werden nicht zügiger und häufiger gemeldet werden, nur weil härtere Strafen drohen. Beteiligte wie Mitwisser werden dann eher umso konsequenter schweigen; betroffene Kinder sind sowieso die Letzten, die ihre Eltern oder Verwandten anzeigen werden.

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