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  • Angstroem

mehr als 1000 Beiträge seit 29.06.2000

Re: Du hast in einen Spiegel geblickt

the observer schrieb am 9. März 2012 11:19

> Interessant an dieser Auflistung ist nicht das Spicken, sondern die
> Beurteilung des Spickens durch die Menschen im Vergleich mit anderen
> Schummeleien. Ist es nicht interessant, daß man fremde Schwarzarbeit
> so gut wie gar nicht (6%)durchgehen lassen will, für Schwarzarbeit
> aber, wenn sie das eigene Wohl betrifft, ein Vielfaches (42%) an
> Zustimmung besteht?

Das ist nicht interessant, sondern das klassische
Splitter/Balken-Problem. Das ist so alt, daß es sogar in der Bibel
steht.

> Ich kann keinen grundsätzlichen Unterschied erkennen, vor allem nicht
> bei Deiner seltsamen Unterscheidung von "organisiert" und
> "individuell".

Ich sehe da durchaus einen Unterschied zwischen dem Fall, wo man z.B.
dem selbständigen Klempner nen kleine Aufmerksamkeit zusteckt, damit
er in seiner Freizeit mal eben die Motorspirale durch die Leitung
schiebt oder eine widerspenstige Armatur montiert, und dem Fall, wo
beispielsweise eine Baufirma ihre Angestellten schwarz beschäftigt.

> Jeder möchte einen finanziellen Vorteil für sich
> herausschlagen. Die Unterschiede bestehen lediglich in den
> verschiedenen Ausgangspositionen; in den Dimensionen von dem, was man
> zu bieten (bzw. zu ergattern) hat.

Womit wir wieder beim Moralbegriff wären, der von einigen ins Feld
geführt wurde. Welches Schummeln ist noch statthaft und wo fängt der
häßliche Bereich an?

> Ich gehe sogar noch weiter: Jeder, der kleine Schummeleien oder
> Schwarzarbeit  im Privaten gutheißt, ist prädestiniert dafür, sich
> ebenso wie die "korrputen Politiker" zu verhalten, würde er in die
> entsprechede Situation kommen.

Du kannst den Zwischensatz komplett rauslassen und er behält
weiterhin Gültigkeit. Macht korrumpiert. 

Das konnte man wunderbar bei den Grünen beobachten, und bei den
Piraten knirschte es ja auch bereits vor einiger Zeit im Gebälk, als
sich erste Machtstrukturen verfestigten. Sobald die Aufbauarbeit
abgeschlossen ist, werden auch dort die "Berufspolitiker"
mittelfristig die Macht übernehmen und die Moral den Bach
runtergehen.

> In einer Welt, in der materieller Wohlstand als das erstrebenswerte Ideal
> gilt, ist die Versuchung für jeden groß, der diesem Ideal nachläuft. Wer
> würde da nicht schwach werden?

Da habe ich auch nie in Frage gestellt. Ich stelle allerdings die
Vergleiche in Frage. Denn nicht jeder Schulschummler, nicht jeder,
der hin und wieder seinen Handwerker der Wahl unter der Hand entlohnt
wird deshalb ein Abgreifer im großen Stil.

Es gibt da im Badischen so einen netten Spruch: "Mir dun ährlich
bscheiße." 

Heißt: Leben und leben lassen. Kleine Abkürzungen hier und da gehören
zum Leben. Wichtig ist jedoch, daß hier bei Überspannen des Bogens
auch Konsequenzen drohen.

So wie der Hausaufgabenabschreiber streng ermahnt wird, wenn's
rauskommt, und auch klar ist, daß die Klausur eine 6 erhält, wenn er
beim Spicken erwischt wird.

Auch wird das Finanzamt dem Handwerker sehr schnell und massiv auf
die Finger klopfen, wenn er eine sichtbar florierende Niederlassung
betreibt, aber die Firmenumsätze so gar nicht zum restlichen Bild
passen wollen. Und richtig Ärger gibt es, wenn die Bücher frisiert
werden.

Ab einer gewissen Hierarchieebene versagen jedoch diese
Kontrollmechanismen, was letztendlich zu einer ungehemmten
Selbstbedienungsmentalität führt.

Das schönste Beispiel ist derzeit unser Herr Wulff, der trotz aller
-- durchaus substanziellen -- Vorwürfen nicht nur nicht einsehen mag,
wieso er nun aus dem Amt gedrängt wurde (freiwillig hätte er sicher
nicht abgedankt), sondern natürlich nun alle Ansprüche geltend macht.

Klar, würden wir das in der Situation alle genauso machen. Wenn ich
mit €200.000/Jahr bis an mein Lebensende alimentiert würde und noch
einen persönlichen Wasserträger samt Dienstwagen dazubekäme, wäre mir
das auch ziemlich egal, ob mich 95% der Deutschen für ein Arschloch
hielten. Zumal die das sowieso in 3 Wochen wieder vergessen haben,
wenn das nicht täglich in der BILD steht. 

Schreit heute noch jemand über Schäubles schwarze Koffer, Kohls
"Bimbes" oder Cem Özdemirs Flugmeilen und generelle Nähe zu
Ögertours? Bekommt Schröder heute seinen Gazprom-Deal täglich um die
Ohren gehauen, welcher ihm den bequemen Posten dort beschafft hat?

Der Punkt ist hier vielmehr der, wieso auf dieser Ebene keine
Sanktionen mehr greifen. Eine "Emmely" wird, arbeitsrechtlich formal
zu recht, gefeuert, weil sie einen liegengebliebenen Pfandbon im
Gegenwert von zwei Butterbrezen einlöst. Chefsekretärinnen werden,
arbeitsrechtlich formal zu recht, gefeuert, weil sie sich nach
Meetings beim Abräumen einen der übrigen Donuts oder ein übriges
Mettbrötchen geschnappt hat.

Jeder Staats- oder Landesangestellte, vom wiss. Mitarbeiter bis zum
Professor, vom Streifenpolizisten bis zum Finanz"beamten" (sind sie
ja heute nicht mehr) wird beständig drangsaliert mit Richtlinien, die
sicherstellen sollen, daß hier auch ja keine persönliche Bereicherung
stattfindet. Du hast während des Fluges eine warme Mahlzeit erhalten?
Dann kürzen wir gleich mal den üppigen Tagesspesensatz von €24. Wieso
willst Du überhaupt fliegen, da fährt doch sicher auch ein Zug. Der
braucht dann zwar 8h statt nur 1h ... Ach, gut, der Flug ist
günstiger, da hast Du nochmal Glück gehabt. Wie, jemand bedankt sich
bei Dir mit mehr als einer Schachtel Pralinen? Geht nicht.

Baut hingegen ein Manager hochgradig Mist, ruiniert gar die Firma,
dann pocht er trotzdem auf Vertragserfüllung oder bekommt eine
Kompensation für die vorzeitige Vertragsbeendigung.

Baut ein Politiker hochgradig Mist, was sie seit geraumer Zeit
eigentlich nonstop tun, dann ... passiert nichts. Hauptsache, man
steht die initiale Periode von 4 Jahren durch, dann hat man seine
lebenslangen Ansprüche. Und wo beispielsweise dem Staatsangestellten
nur 8h Nebentätigkeit/Woche erlaubt sind (genehmigungspflichtig,
versteht sich), kann der ebenfalls vom Steuerzahler alimentierte
Politiker nebenher Unsummen in beliebiger Höhe einstreichen und muß
diese nicht einmal angeben.

> Und noch eines: Weshalb hast Du unterschlagen, daß Korruption ein
> Geschäft auf Zweiseitigkeit ist? Dir fallen immer nur nur die
> maßlosen, gierigen Geldnehmer ein, aber niemals die nicht minder
> maßlosen, gierigen Geldgeber.

Sicher, es gehören immer zwei zu einem Tango.

Aber: Die Geberseite ist hier jene, die letztendlich das unmoralische
Angebot macht und i.a. von Hause aus im Unrecht ist, sonst bräuchte
sie die unlauteren Mittel nicht. Beispielsweise, daß der Buchprüfer
nicht zu genau hinschaut. Daß Bauprojekte durchgedrückt werden, die
andernfalls nie genehmigungsfähig wären. Oder eben schlicht, um den
Lohnanteil der Handwerkerrechnung um 30-50% zu drücken.

Hier könnte die Empfängerseite ja ablehnen, anstatt sich zum Mittäter
zu machen.

Man findet es offenbar allerdings häufiger, daß der Handwerksbetrieb
auf die Frage, ob das auch ohne Rechnung ginge, ablehnt, als daß der
Kommunal-, Landes- oder Bundespolitiker Einladungen, Reisen und
sonstige Aufmerksamkeiten ablehnt.

Das hat den einfachen Grund, daß der Handwerksbetrieb hier deftige
Sanktionen zu fürchten hat. Der Politiker ganz offenbar nicht.

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