Ich denke, wir sind in der Sache gar nicht so weit auseinander wie es den Anschein hat.
Was sie "Verrohung" nennen meint ja einen inneren Vorgang im einzelnen Individuum. Das ist aber nicht einfach eine direkte Folge des Krieges, sondern dem geht eine gesellschaftliche Verrohung voraus, die setzt den Rahmen, in dem das Individuum sich in der Unterscheidung von richtig und falsch bewegt. Dieser Rahmen wird maßgeblich von der militärischen und politischen Führung gesetzt, z.B. dadurch, wie weit der Feind durch die Propaganda entmenschlicht wird und eigene Kriegsverbrechen heruntergespielt oder negiert werden.
Sie haben recht, dass im Krieg Handlungen legitimiert und sogar gefordert werden, die einen im zivilen Leben hinter Gitter bringen würden. Ich verstehe sie so, dass sie davon ausgehen, dass diese Umwertung nachwirkt und nie mehr ganz verschwindet. Wer einmal z.B. einen Menschen getötet hat, wird diese Grenze auch in seinem zukünftigen Leben leichter überschreiten, so die Annahme.
Tatsächlich war die Mordrate im Nachkriegsdeutschland besonders hoch und fiel est nach dem Hungerwinter 46/47 steil ab, Anfang der 50er Jahre erreichte sie jedoch ein nie wieder erreichtes Minimum und das waren noch immer die gleichen Menschen, also i.d.R. Kriegsteilnehmer. Man kann darüber streiten, welchen Anteil der zeitliche Abstand zum Krieg und welchen das Ende der Nachkriegswirren daran hatten. Jedenfalls spricht nichts dafür, dass die Kriegsteilnehmer im späteren Zivilleben eher zu Mord und Totschlag neigen als die später Geborenen ohne Kriegsvergangenheit.
(https://www.kriminalpolizei.de/ausgaben/2017/maerz/detailansicht-maerz/artikel/morde-1950-bis-2015.html)
Sehr empfehlenswert zu diesem Thema ist das Buch "Soldaten" von Sönke Neitzel und Harald Welzer, das Protokolle von heimlichen Mitschnitten der Gespräche deutscher Soldaten in amerikanischer und britischer Gefangenschaft auswertet. Ich zitiere aus einer Rezension des Buches, die seinerzeit in der "Welt" erschien:
"Väter und Großväter haben nicht aus Scham geschwiegen oder um sich selbst nicht zu beschuldigen, sondern weil sie nach 1945 den Referenzrahmen gewechselt haben - sie haben über den Krieg nicht deshalb kaum gesprochen, weil sie etwas zu verschweigen hatten, sondern weil sie endlich zurückkehren wollten in einen zivilen Alltag. Nicht jeder einstmals überzeugte Kämpfer für Hitlerdeutschland ist später aus schierem Opportunismus zum vorbildhaften Demokraten geworden, sondern weil Situation und Umgebung ihm das nahelegten. Persönliche Charaktereigenschaften entscheiden seltener, als uns lieb ist, über das, was wir tun, und darüber, wie wir fühlen."
(https://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article13477068/Eine-ganz-gewoehnliche-Verrohung.html)