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  • Mov Faltin

mehr als 1000 Beiträge seit 11.12.2013

Viel schlimmer war die Reaktion von Biden

Nach sechs Tagen hat sich ein fragil wirkender Biden dazu aufgerafft, aus dem Urlaub in Camp David kurz ins Politische einzufliegen und ein zwanzigminütiges Statement abzugeben. Von diesem Statement geben die hiesigen Medien die wirklich kritischen Teile partout nicht wieder.

(1) Er hat negiert, dass es in Afghanistan jemals um Demokratiebringung und Nation-Building gegangen ist, sondern seit jeher bloß um die Bestrafung oder Prävention gegen die Urheber der Anschläge von 9/11. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was vor Ort allen vermittelt wurde: Dort hieß es »Wir bringen Euch Wohlstand und Demokratie und Frieden.« Und nicht: »Wir killen bei Euch bloß ein paar Mitmenschen, die wir für gefährlich halten.«
Diese Geschichtsklitterung, diese offene Lüge, diese Verachtung gegenüber allen Ortskräften und Unterstützern und Alliierten ist für mich unerträglich inhuman. Sie muss zur Folge haben, dass das die Wahrnehmung vorherrscht, die USA seien unzuverlässige Betrüger und Lügner. Das ist ein außenpolitisches Fiasko, das komplett vermeidbar gewesen wäre. Die Rede war schließlich inhaltlich nicht von außen forciert.

(2) Er hat zwar am Ende gesagt »The buck stops with me« (sinngemäß entweder »Bei mir hört der Mist auf« oder aber auch »Ich trage die Verantwortung«), hat davor aber mit lauter Lügen und Halbwahrheiten ein reines Blameshifting betrieben. Schuld seien die afghanischen Regierungstruppen, schuld seien die afghanischen Regierenden, und schuld sei der Trömp gewesen. Das alles ist unhaltbar: Nicht nur hat Biden explizit Wahlkampf gemacht mit »Der Abzugsplan vom Trömp ist schlecht, ich habe einen besseren«, nicht nur hatte er qua Präsident freie Hand zur Durchsetzung seines angekündigten Planes, sondern er ist sogar dahingehend vom Plan vom Trömp abgewichen, dass er den Abzug der Truppen nicht mehr an Bedingungen geknüpft hat -- was der Trömp explizit gemacht hat. Biden hat »seinen« Abzug als seine Politik verkauft, wohl wissend, dass ein weitgehender Rückhalt in der US-Bevölkerung für einen Rückzug da war -- und das nun um 180° mit blanken Falschbehauptungen negiert. Ebenfalls ist der Regierung Afghanistans nur zum Vorfeld der Talibanoffensive, aber eben nicht zum Zeitpunkt der Flucht von Ghani, eine Vorhaltung zu machen. Als Ghani floh, hatte sich das afghanische Militär landesweit geweigert, zu kämpfen, hatte die Taliban mit Gerät, Infos und sogar Personal versorgt -- hätte Ghani sich mit einem Briefbeschwerer den Tausenden AK47-Kämpfern entgegenstellen sollen? Die Flucht war -- zu diesem Zeitpunkt wohlgemerkt -- verständlich, zumal Ghani aufgrund seiner vorherigen Verfehlungen und Korruption bei keiner Bevölkerungsgruppe wesentlichen Rückhalt genoss. Und was ist nun mit dem afghanischen Militär? Nun, von Luft und Liebe können nicht einmal die tapfersten Soldaten leben. Die Führung korrupt und selbstbereichernd und weniger in Kabul unterwegs denn in Washington, seit Monaten keinen oder zu wenig Sold, merkwürdige postmaterialistische Einstellungen, welche die Westtruppen mitbringen und an den Mann zu bringen versuchen -- wer ist da bereit, sein Leben für eine solche sich abzeichnende Misere, für null Lohn, aufs Spiel zu setzen, wenn die Verheißungen der Taliban auch für die Zukunft des Landes viel aufrichtiger und sinnvoller daherkommen? Das eine, was die Soldaten bei der Stange hielt, war Geld, das ausblieb. Keine Überzeugung mehr, keine Hoffnung. Reines Söldnertum, für einen unverstandenen scheinbaren Feind im eigenen Land. Und wo dann noch eine konkrete Bedrohung dazukommt, mit Kenntnis über die jüngeren Geschehnisse und Kapitulationen anderswo, da ist den Kämpfern eben kein Vorwurf zu machen. Wer kein einziges der Versprechen einhält, wie die Westkräfte, wer nicht einmal den Sold besorgt (der versickert ist in tiefen Taschen der Führung), für den muss man nicht nur nicht kämpfen -- für den sollte man nicht kämpfen. Das ist alles folgerichtig -- und den Truppen ist selbst bei rudimentärer Kenntnis der Lage im Land keinerlei Vorwurf zu machen. Der afghanischen Führung hingegen, das hatte ich oben gesagt, schon, aber eben nicht zum Zeitpunkt der Flucht.

Noch nie habe ich eine dermaßen schlimme Rede von einem US-Präsidenten gehört. Wenn mal was so richtig schiefläuft, sollte man das auch benennen, anstatt sich in eine Parallelrealität zu flüchten. Und dann sollte man den Opfern, den Leuten, die den Verheißungen geglaubt haben, nicht dermaßen in den Rücken fallen.

In den westlichen Medien wird dieser erste Part der Rede fast komplett ausgeblendet; die harmlosen und nicht verlogenen, recht unstrittigen Gemeinplätze am Ende werden stattdessen eingespielt. Das ist eine Schande, denn so etwas muss auf den Tisch!

Ich halte einen Abzug für richtig (ich hielt die Präsenz in Afghanistan nie für gut); ich habe kein immenses Problem mit peinlich eklatanten Fehleinschätzungen, wo alle Intelligenten gewarnt hatten (und bloß die stumpfen Mitläufer der Verwaltungen und Lobbies sich auf ihre zusammengewürfelten Zahlenpapiere verließen statt auf Expertisen) -- die passieren halt; aber ich habe ein massives Problem damit, wenn jemand in Verantwortung so eine grausame Rede hält und mal eben das gesamte Wertekorsett des Westens verrät -- das in Teilen ja durchaus realiter existiert. Oder existierte.

Die Leute, mit denen ich zum Thema gesprochen habe, waren unisono der Meinung, auf die USA sei kein Verlass mehr, auch nicht für die westlichen Partner. Genau diese Lehre aus der ganzen Geschichte ist wohl die grassierendste. Nicht aufgrund der Vorkommnisse in Kabul selbst, die sind unschön, aber entschuldbar, sondern aufgrund der unfassbar unprofessionellen Reaktionen.

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