Kritik ist notwendig.
Entscheidend an der Kritik ist die Analyse der herrschenden Verhältnisse und die aus dieser Analyse abgeleitete Forderung, die herrschenden Verhältnisse zu verändern/umzuwälzem.
Agamben:
"Die Epidemie bringt die Tatsache zum Vorschein, (dass) der Ausnahmezustand, auf den uns die Regierenden seit geraumer Zeit einschwören, längst zu unserem Normalzustand geworden ist."
Was sagt er damit? Die Regierenden verhindern den Normalzustand, weil sie den Ausnahmezustand zum Normalzustand machen, indem sie uns auf diesen Ausnahmezustand einschwören. Agamben hätte gerne den Normalzustand mit Regierungen, die nicht den Ausnahmezustand zum Normalzustand machen. Agamben argumentiert für die herrschenden Verhältnisse.
Graefe:
Sie widerspricht Agamben und sieht die Gefahr "in der sichtbar werdenden Fragilität der staatlichen Institutionen und Krisenverwaltung".
Was sagt sie damit? Einzige Gefahr ist nicht, dass Regierungen die Pandemie (oder einen nur behauptete Pandemie) als Vehikel zur Installation eines autoritären Staates als Normalzustand nutzen, sondern dass sie an den Aufgaben in der Pandemie zerbrechen.
Graefe sehnt sich nach einem starken Staat auch in der Pandemie und argumentiert somit für die herrschenden Verhältnisse.
Das Elend der Kritik liegt darin, die herrschenden Verhältnisse als guten Normalzustand einzuschätzen, der durch die Handlungen von Regierungen im "Ausnahmezustand" gefährdet zu sein scheint. Zu einer Kritik der herrschenden Verhältnisse dringen beide nicht vor. Hauptgrund dafür ist ihre tendenzielle (Agamben) und völlige (Graefe) Abstinenz hinsichtlich einer gründlichen Kritik der herrschenden ökonomischen und in diesem Zusammenhang eben auch politischen Verhältnisse. Agamben platziert immerhin mit dem Begriff "Medizindiktatur" eine berechtigte Teilkritik, die sich aber längst (im Sinne von Biopolitik) vor der Pandemie etabliert hat.
Beide verkennen völlig die Normalität außerhalb einer Pandemie, nach der sich nicht zufällig vor allem diejenigen zurücksehnen, die ihr Lebensglück nahezu ausschließlich an den kompensatorischen Vergnügungen orientieren, welche die herrschenden Verhältnisse neben den fundamental-drastischen Zumutungen des lohnabhängigen Arbeitsprozesses bieten müssen, um "den Laden" überhaupt noch "am Laufen" zu halten.
Insofern liefern Agamben und Graefe - der Publizist Kohler ist mit seiner pandemiebedingten Solidaritätsthese ohnehin nicht ernst zu nehmen - Wasser auf die Mühlen der Coronaverharmloser und -leugner, die denjenigen, die den Gefahren durch Sars-CoV-2 um- und vorsichtig begegnen, vorschreiben wollen, diese Umsicht und Vorsicht aufzugeben, oder nur für sich selbst so um- und vorsichtig zu sein, während sie als radikalisierte Normalitätsvertreter in Anspruch nehmen, keinerlei Vorsichtsmaßnahmen walten lassen zu müssen. Dass dabei diese Um- und Vorsicht durch unvorsichtige Verhaltensweisen der Verharmloser und Leugner massiv konterkariert wird, interessiert die Cornaverharmloser und -leugner nicht, weil sie in ihrer Ideologie des angeblich glücksbringenden Normalzustandes der herrschenden politisch-ökonomischen Verhältnisse so verfangen und überzeugt sind, dass sie alle Vorsichtsmaßnahmen als lebensfeindlich-autoritäre begreifen und für sich in Anspruch nehmen zu entscheiden, wie man zur Zeit zu leben hat.
Die semantische Verwahrlosung und Verkehrung in der Verwendung von Begriffen führt - nicht nur hier im TP-Forum - dazu, dass eine umfassende Kritik der herrschenden Verhältnisse durch "Systemlinge", die sich in unbegriffener automatischer Identifikation mit den herrschenden Verhältnissen eingerichtet haben, ständig mit scheinbar raffinierten "Argumenten" erstickt wird.
Den zur Zeit angeblich Kritischen geht es nicht um eine Kritik herrschender Verhältnisse, sondern um eine halluzinierte Rettung ihrer "Freiheit" und "Normalität" mitten im demokratischen Kapitalismus.
Anmerkung 1:
Ich habe durchaus Mitgefühl für diese "Systemlinge". Die Macht der Verhältnisse ist gewaltig und nicht selten ist es Zufall, ob man in die Lage versetzt wird, diese Verhältnisse zu kritisieren oder nicht.
Anmerkung 2: Die auffallende und nur scheinbar seltsame (weitgehende) Übereinstimmung von ("echt") linken Kritikern der herrschenden Verhältnisse mit den Corona-Maßnahmen der demokratisch-kapitalistischen Regierungen müsste eigentlich zu fruchtbaren Diskussionen führen, wenn denn diese "echte" Linke noch eine gewichtige Rolle spielen könnte. Das ist aber nicht der Fall, weil diese Linke nur noch ein versprengter und zerstrittener Haufen ist. Das, was im öffentlichen Diskurs als "links" verhandelt wird (Die Linke, Wagenknecht, Lafontaine usw.), ist nicht links.