Giorgio Agamben hat sich nicht einlullen lassen von der gezielt geschürten Angst und Panik, sondern früh vor dem Abdriften in die Barbarei gewarnt.
Am 15. April 2020 schrieb Agamben in der NZZ:
Was spielt sich gerade vor unseren Augen in den Ländern ab, die von sich behaupten, sie seien zivilisiert?
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Ich denke, der Leser, der sich anschickt, über die folgenden Punkte nachzudenken, kann nicht anders, als zuzustimmen, dass die Schwelle, welche die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, überschritten wurde. Und zwar, ohne dass man dies bemerkt hätte oder indem man so tat, als würde man es nicht bemerken.Drei Punkte
1.) Der erste und vielleicht schwerwiegendste Punkt betrifft die Körper der toten Personen. Wie konnten wir nur im Namen eines Risikos, das wir nicht näher zu bestimmen vermochten, hinnehmen, dass die uns lieben Menschen und überhaupt alle Menschen in den meisten Fällen nicht nur einsam sterben mussten, sondern dass ihre Leichen verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden? Dies ist in der Geschichte von der mythischen griechischen Königstochter Antigone bis heute nie geschehen.
2.) Wir haben bedenkenlos hingenommen, wiederum nur im Namen eines nicht näher zu bestimmenden Risikos, dass unsere Bewegungsfreiheit in einem Ausmass eingeschränkt wurde, wie dies zuvor nie in unserem Land geschah, nicht einmal während der beiden Weltkriege (die Ausgangssperre galt damals für bestimmte Stunden). Wir haben also hingenommen, im Namen eines nicht näher zu bestimmenden Risikos die Pflege unserer Freundschafts- und Liebesbeziehungen einzustellen, weil unser Nächster zu einer möglichen Ansteckungsquelle wurde.
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Die Maßnahmen im Zuge der vorgeblichen Corona-Bekämpfung sind ein Menschheitsverbrechen, die staatlich verordnete Misshandlung von Kindern, kranken und älteren Menschen ein Zivilisationsbruch ungeheuren Ausmaßes, und die Täter werden sich nicht damit herausreden können, sie hätten nur nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.
Ich weiss, dass es immer Leute geben wird, die sich erheben und antworten werden: Das durchaus schwere Opfer sei im Namen moralischer Prinzipien dargebracht worden. Sie möchte ich daran erinnern, dass Adolf Eichmann – offensichtlich in gutem Glauben («buona fede») – nicht zu wiederholen aufhörte, dass er, was er getan hatte, aufgrund seines Gewissens getan habe, um dem zu genügen, was er für die Gebote der kantischen Moral hielt.
Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten.
https://web.archive.org/web/20200419060602if_/https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-giorgio-agamben-zum-zusammenbruch-der-demokratie-ld.1551896
Agamben hat früh die Finger in die Wunde gelegt und ist damit eine wohltuende Ausnahme von dem ansonsten fast durchgängigen Versagen der Intellektuellen und Philosophen, denen angesichts des Ausmaßes der Verbrechen ihre Fähigkeit zum kritischen Denken abhanden gekommen ist.