… das alleinige Allheilmittel glauben, als solche, die der Autor beschreibt.
Ich war und bin immer noch ehrlich begeistert vom Beginn des Essays. In dem Augenblick aber, in dem er zur Impfung übergeht, lässt er alles vorher Geschriebene zur Makulatur werden. Kein Zweifel an der Wirksamkeit, kein Zweifel an der Impfung als alleinige Strategie, keine Ambivalenz, wenn es um die Beschreibung Ungeimpfter geht.
Hat der Autor schon einmal ein Buch von Gerd Gigerenzer zur Hand genommen oder einen seiner Vorträge zur persönlichen Risikokompetenz verfolgt? Wahrscheinlich nicht, denn dann würde er einem mehr oder weniger großen Teil der Ungeimpften genau diese zuschreiben. Philosophische Wahrheiten sind in der Realität immer gefährdet und Meinungen unterlegen. Niemand anderes als Hannah Arendt hat dies in dem Essay "Wahrheit und Politik" ausführlich dargelegt. Dieses kleine Büchlein sollte man dabei haben, wenn man sich auf die Bank mit dem Aufkleber "Zweifel" setzt und anfängt zu philosophieren. Hier zwei kurze Auszüge.
"Für das Handeln, das entscheidet, wie es weitergehen soll, sind Tatsachen keineswegs notwendig; es verliert das Es-hätte-auch-anders-kommen-Können nie ganz aus den Augen. Daraus folgt aber, daß Tatsachenwahrheiten genauso wenig evident sind wie Meinungen, und dies mag einer der Gründe sein, warum im Bereich der Meinungen es so leicht ist, Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, daß man behauptet, sie seien eben auch Ansichtssache. Hinzu kommt, daß die Etablierung von Tatbeständen so außerordentlich unsicher ist; man braucht Augenzeugen, die notorisch unzuverlässig sind, oder Dokumente, Aufzeichnungen, Denkmäler aller Art, die insgesamt eines gemeinsam haben, nämlich daß sie gefälscht werden können. Bleibt der Tatbestand strittig, so können zum Zwecke seiner Erhärtung nur weitere Zeugnisse der gleichen Art angeführt werden, aber keine diesen überlegene Instanz, so daß eine Einigung schließlich nur durch Mehrheitsbeschluß zustande kommen kann, genau wie bei Meinungsdifferenzen – ein in diesem Fall gänzlich unbefriedigendes Verfahren, da nichts eine Mehrheit von Zeugen daran hindert, einstimmig falsches Zeugnis abzulegen. Sobald also eine Tatsachenwahrheit den Meinungen und Interessen im politischen Bereich entgegensteht, ist sie mindestens so gefährdet wie irgendeine Vernunftwahrheit."
"Da philosophische Wahrheit den Menschen im Singular betrifft, ist sie ihrem Wesen nach unpolitisch. Will der Philosoph dennoch seine Wahrheit im Widerstreit der Meinungen zur Geltung bringen, so wird er immer den Kürzeren ziehen und aus dieser Niederlage schließen, daß Wahrheit (oder der »Geist«) ohnmächtig ist – was eine Binsenwahrheit ist, der so viel Bedeutung zukommt wie, wenn es dem Mathematiker, der die Quadratur des Kreises nicht zustande bringt, einfallen sollte, sich darüber zu beklagen, daß ein Kreis kein Quadrat ist. Er mag dann, wie Plato, in die Versuchung geraten, sich nach einem philosophisch begabten Tyrannen umzusehen, und in dem glücklicherweise höchst unwahrscheinlichen Fall des Erfolgs könnte er im Namen der »Wahrheit« eine jener Despotien errichten, wie wir sie aus politischen Utopien kennen; politisch gesprochen würde sie sich von anderen Formen der Tyrannis nicht unterscheiden. Sollte es ihm, was wenig wahrscheinlich ist, gelingen, eine solche Herrschaft ohne die Hilfe der Gewalt zu errichten, so hätte er immer noch einen Pyrrhussieg errungen. Denn dies wäre nur möglich, wenn die Vielen zufällig mit ihm und seiner Wahrheit übereinstimmen sollten. Die Wahrheit würde also ihren Sieg nicht ihrer eigenen zwingenden Evidenz verdanken, sondern der Zustimmung der Vielen, die morgen anderer Meinung sein und anderen Ansichten ihre Zustimmung geben können. Der Philosoph, der sich in den Kampf der Meinungen und Mächte einläßt, degradiert auf jeden Fall seine Wahrheit zu einer bloßen Meinung, einer Ansicht unter vielen möglichen und wirklichen Ansichten."