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303 Beiträge seit 19.02.2010

Re: Viele Künstler sind bzw. waren Naturfreunde und Gesellschaftskritiker.

In ählichem Sinne äußerte sich 2004 Manfred Osten - Das geraubte Gedächtnis:

Mit dem Kunstwort „veloziferisch", gebildet aus dem lateinischen „velocitas" (Geschwindigkeit) und „Luzifer', hat bereits Goethe angesichts des aufkommenden Maschinenzeitalters
das „größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt und so immer von der Hand in den Mund lebt", gegeißelt: „Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt;
Eisenbahnen, Schnellposten und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren."

Seither haben sich die Beschleunigungs- und Übereilungstendenzen weiter ins geradezu Irrwitzige gesteigert. Befangen in der Illusion, wir brauchten nur alles Mögliche auf Datenträgern zu sammeln und in mächtigen Servern feilzuhalten,
leben wir in Wahrheit intellektuell von der Hand in den Mund. Als Gedächtnislose brechen wir im Namen von Großprojekten und Ideologien zur ökonomisch orientierten Optimierung der Weltgesellschaft auf,
begleitet von weiteren radikalen Kontinuitätsbrüchen des Gedächtnisses in Gestalt von Weltkriegen, Bücherverbrennungen und der 68er-Revolte.

Was beim ersten Blättern nach stockkonservativem Traditionalismus riecht, mundet bei genauerem Lesen eher als schopenhauerscher Pessimismus und eindringliche Ermahnung zum Innehalten.
Wer immer nur übereilt nach vorne strebt, der läuft Gefahr, irgendwann moralisches Empfinden und Respekt vor der Menschenwürde hinter sich zu lassen.

Diese Sorge scheint es vor allem gewesen zu sein, die Manfred Osten zu diesem Essay veranlasst hat.
Das Vergessenkönnen, dies sei zum Trost gesagt, ist aber auch eine Schutzfunktion des menschlichen Gehirns, und schließlich muss man auch nicht alles lesen, was da gedruckt und gespeichert wird.
„Lesen", warnte schon Schopenhauer, das heißt „mit einem fremden Kopfe statt des eigenen denken". (fm)

Zu der Überlegung von Schopenhauer ergänzend die Rezensionsnotiz Süddeutsche Zeitung, 20.12.2004:

Florian Coulmas macht sich in der Kritik von Manfred Ostens Buch "Das geraubte Gedächtnis", in dem dieser die Digitalisierung beklagt, zum Verteidiger digitalisierter Datenträger.
Zunächst räumt er ein, dass der Autor dem Leser bei seiner kulturpessimistischen Klage über die stete Beschleunigung des "Lebenstempos" und der Kommunikation durchaus "aus der Seele spricht".
Coulmas erkennt auch an, wie "wunderbar gelehrt und stilistisch höchst elegant" Osten seine Lamentation über die "Erosion des kollektiven Gedächtnisses" vorbringt.
Dennoch findet der Rezensent, dass Osten nicht bedenkt, dass Neuerungen von jeher mit Ablehnung bedacht worden sind - er weist kenntnisreich auf Platons "tiefes Misstrauen gegen die Schrift" hin - und
er will ihm auch nicht in dem Gegensatz von "Gedächtnis" contra "Fortschritt" folgen. Trotzdem, so Coulmas überzeugt, trägt diese "gescheite" Abhandlung durchaus einiges zur Bewertung der veränderten
Erinnerungskultur, wie sie durch die Digitalisierung von Daten eintritt, bei.

Buchbesprechung in der c’t 2004-21

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (12.12.2022 23:15).

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