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mehr als 1000 Beiträge seit 26.09.2005

Sehr schöner Artikel

Jedenfalls soweit es das Grundsätzliche angeht.

Aber Antisemitismus? Sehe ich in Deutschland nicht. Es wird überhaupt
kein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsproblemen und Jüdischem
hergestellt. Wer das heute tut, ist eine kleine und alles in allem
nicht mal sonderlich lautstarke Minderheit, solche Parolen höre ich
nicht mal aus der rechtsextremen Ecke. (Man provoziert gern damit und
verbeugt sich damit auch vor den Vorbildern der Nazizeit, aber das
sind keine persönlichen Überzeugungen.)

Ich denke, das Grundproblem ist nicht der Antisemitismus an sich,
sondern die Neigung der Menschen, sich Sündenböcke zu suchen.
Heute: Immigranten und Hartz-IV-Empfänger.
Im alten Ostblock: Imperialisten.
Vor 50 Jahren in den USA: Kommunisten.
Vor 80 und vor 800 Jahren in Mitteleuropa: Juden.
Vor 100 Jahren in der Türkei: Kurden.
Tamilen und Singhalesen. Spanier und Basken. Kommunisten und
Protestanten.

Antisemitismus ist m.E. nur eine mögliche Ausprägung der
Grundkrankheit.
Die Juden haben natürlich, als eine im Verlauf von fast zwei
Jahrtausenden ständig als fremd erkennbare Gruppe, die Fieberschübe
dieser Krankheit wieder und wieder erleiden müssen.
Aber nicht einmal das macht die Leiden des jüdischen Volks singulär,
Ähnliches ist der anderen großen Gruppe Ausgegrenzter widerfahren,
dem fahrenden Volk, darunter insbesondere denen, die zur Nazizeit und
danach als Zigeuner bezeichnet wurden.

Interessanterweise blockieren jüdische Gedächtnisorganisationen gern
das Gedenken an ermordete Sinti und Roma, und nehmen für sich in
Anspruch, dass die Verbrechen an ihnen singulär sind.
Es ist wohl so, dass auch die Opfer bzw. ihre Nachfahren von dieser
Krankheit des Ausgrenzens Fremd(artig)er nicht gefeit sind.
(Nebenbei bemerkt nehme ich den Zentralrat der Juden auch wegen
dieses "Wir sind die Opfer!"-Anspruchs nicht mehr ernst. Nicht als
moralische Instanz jedenfalls.)

Fazit: wer nur über Pro- und Antisemitismus nachdenkt, sieht einen
Baum und ignoriert den ganzen Wald.
Und das Herumreiten auf der speziellen Geschichte der Juden (die
zweifellos von ungeheuren Grausamkeiten geprägt ist) führt zu
merkwürdigen Verklemmtheiten, gelegentlichen
"Betroffenheitswettbewerben", fehlgeleiteten Vorwürfen wie dem, dass
ein Mahnmal für nichtjüdische Opfer der NS-Zeit antisemitisch sei
(jedenfalls dann, wenn nicht ein mindestens dreimal so großes Mahnmal
für jüdische Opfer danebensteht); und mittendrin kochen die
Volksverhetzer ihre eigenen Süppchen, die Moralkeulenschwinger
genauso wie die Verbrechensschönredner.
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