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Avatar von The Great Mute
  • The Great Mute

mehr als 1000 Beiträge seit 24.12.2011

Pro "Intellektuelle Demut"

Also, ich glaube ich gehöre zu denen auf die dieser Begriff zutrifft und ich finde es eine sehr nützliche Eigenschaft.

Aber anfangen möchte ich mit einer kleinen "Anekdote". Ich lese momentan (mal wieder) das Buch "Exploring the World of Lucid Dreaming" von Stephen LaBerge und Howard Rheingold.
LaBerge hat um 1980 seine Dissertation in Psychologie über das luzide Träumen geschrieben. Im Zuge seiner Promotion hat er u.A. nachgewiesen daß luzide Träume überhaupt existieren. Vorher war es lange Zeit wissenschaftlicher Konsens daß soetwas nicht existiert.
Den Nachweis hat er geführt indem er selbst gelernt hat auf "Kommando" luzide zu träumen und im Schlaflabor seinen Augenbewegungen beobachten ließ. Man hatte bereits vorher entdeckt daß Augenbewegungen im Traum mit realen Augenbewegungen während des REM-Schlafes übereinstimmen, d.h. träumt man z.B. von einem Tennis-Match, so gibt es sehr regelmäßige und langsame Bewegungen der Augen im REM-Schlaf.
Man vereinbarte also vorher bestimmte Signale per Augenbewegung, und LaBerge führte diese dann in seinen luziden Träumen aus.
Der Beweis wurde von der Fachwelt anerkannt und heute "weiß" jeder daß es luzide Träume tatsächlich gibt.

Das Dumme ist nur - und wirklich ohne die Leistung von LaBerge schmälern zu wollen (ich denke er hat da tolle Arbeit geleistet) - der Beweis ist unvollständig und von "Wissen" kann eigentlich keine Rede sein.
Denn dazu müßte erstmal bewiesen sein daß Träume überhaupt existieren!
Man selbst mag ja wissen daß man selbst träumt, aber man kann niemals mit endgültiger Sicherheit wissen daß andere Menschen träumen. So wie man nicht wissen kann ob andere Menschen Bewußtsein besitzen oder ob man selbst das einzige bewußte Wesen ist.
Der Gedanke mag einem lächerlich vorkommen, aber speziell bei vielen Tieren (z.B. Regenwurm) ist es überhaupt nicht klar ob Bewußtsein vorhanden ist. Auch bei menschlichen Embryos existiert ein Streit darüber, insbesondere wenn es um Abtreibungen geht.
Fakt ist: Es ist kein strenger wissenschaftlicher Beweis von Bewußtsein möglich und wir schließen einfach nur von uns auf Andere. Für Träume gilt das dann natürlich automatisch ebenso.

Das ist nicht so dramatisch schlimm und natürlich handle auch Ich so als hätten andere Menschen Bewußtsein.
Aber man sollte doch soviel "intellektuelle Demut" aufbringen zuzugeben daß man das letztendlich nicht weiß. Ehrlich gesagt....ich finde das macht das Leben sehr viel interessanter.

Ich habe leider vergessen wo ich folgenden Spruch mal gelesen habe: "Die Feststellung 'Ich weiß es nicht' ist der Anfang aller Wissenschaft."
Das sollte denke ich klar sein. Nur wenn einem erstmal klar ist daß man etwas nicht weiß, kann man anfangen nach einer Antwort zu suchen.

Und es geht noch weiter. Man "weiß" ja nichteinmal was "Wissen" eigentlich genau ist. Ein ganzer Zweig der Philosophie beschäftigt sich mit diesem Problem - die Erkenntnistheorie. Auch das sollte man sich eingestehen. Daß man nichteinmal wirklich weiß WANN und OB man etwas weiß.
Gute Einführung: "Erkenntnistheorie" von Peter Baummann, ISBN 3476025950

Was hat man nun von "intellektueller Demut"?
Ich denke vor allem einen kritischen Blick auf Alles und Jeden. Man läßt sich idealerweise weniger von Anderen ins Bockshorn jagen, manipulieren und rennt nicht jedem Hype hinterher.
Wenn ich mir z.B. in den letzten Tagen anschaue wie sich die Foristen über den Brexit oder über den Klimawandel fetzen, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln.
Ich selbst fühle mich z.B. nicht gut genug informiert um über beide Themen wirklich eine eindeutige Meinung zu haben.
Ich WEISS definitiv NICHT ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht - bzw. wieviel davon. Dafür habe ich von keiner der beiden Seiten genügend Informationen. Mag sein daß das auch an meinem "Verschulden" liegt. Ich habe mich nicht besonders darüber informiert. Aber dazu würde für mich gehören daß ich z.B. auch mal Primärquellen von Klimaforschern zumindest anlese. Hab ich aber bisher nicht wirklich Zeit für sowas. Also halte ich meinen Mund und äußere mich erstmal nicht dazu.
Ich verlasse mich jedenfalls weder auf Aussagen von Mainstream-Medien, noch auf Verschwörungs-Webseite XY. Was da rüber kommt ist für mich nämlich eben kein verlässliches Wissen.
Ähnliches gilt für den Brexit. Ich stehe der EU sehr skeptisch gegenüber, aber ob nun die Briten einfach doof sind und der Brexit eine fürchertliche Sache oder ob die böse EU die armen Briten knechten möchte - ehrlich gesagt: Keine Ahnung!
Ich habe nicht den Eindruck genug Informationen zu haben um das wirklich beurteilen zu können.
Und ich wundere mich wieviele Leute (auch hier auf TP) im Brustton der Überzeugung dazu ständig eine definitive Meinung äußern.

Jo...und nicht zuletzt werden Diskussionen eben auch etwas ziviler und weniger aggressiv, wenn man davon ausgeht sich auch irren zu können und nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

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