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  • the observer

mehr als 1000 Beiträge seit 18.07.2001

Antwort in aller Demut

The Great Mute schrieb am 06.04.2019 11:23:

Also, ich glaube ich gehöre zu denen auf die dieser Begriff zutrifft und ich finde es eine sehr nützliche Eigenschaft.

Es ist seltsam - aber gerade diese Behauptung ist geeignet, das Behauptete in Zweifel zu stellen. Was mich angeht, kann ich sagen, daß ich mich um intellektuelle Demut bemühe. Zu behaupten, daß dem auch entspräche - so weit versteige ich mich dann doch nicht. Das Urteil darüber überlasse ich anderen, denn genau diese - oft fehlbare - menschliche Selbsteinschätzung ist ja das Kernthema des Artikels.

Aber anfangen möchte ich mit einer kleinen "Anekdote". Ich lese momentan (mal wieder) das Buch "Exploring the World of Lucid Dreaming" von Stephen LaBerge und Howard Rheingold.
LaBerge hat um 1980 seine Dissertation in Psychologie über das luzide Träumen geschrieben. Im Zuge seiner Promotion hat er u.A. nachgewiesen daß luzide Träume überhaupt existieren. Vorher war es lange Zeit wissenschaftlicher Konsens daß soetwas nicht existiert.
Den Nachweis hat er geführt indem er selbst gelernt hat auf "Kommando" luzide zu träumen und im Schlaflabor seinen Augenbewegungen beobachten ließ. Man hatte bereits vorher entdeckt daß Augenbewegungen im Traum mit realen Augenbewegungen während des REM-Schlafes übereinstimmen, d.h. träumt man z.B. von einem Tennis-Match, so gibt es sehr regelmäßige und langsame Bewegungen der Augen im REM-Schlaf.
Man vereinbarte also vorher bestimmte Signale per Augenbewegung, und LaBerge führte diese dann in seinen luziden Träumen aus.
Der Beweis wurde von der Fachwelt anerkannt und heute "weiß" jeder daß es luzide Träume tatsächlich gibt.

Das Dumme ist nur - und wirklich ohne die Leistung von LaBerge schmälern zu wollen (ich denke er hat da tolle Arbeit geleistet) - der Beweis ist unvollständig und von "Wissen" kann eigentlich keine Rede sein.
Denn dazu müßte erstmal bewiesen sein daß Träume überhaupt existieren!
Man selbst mag ja wissen daß man selbst träumt, aber man kann niemals mit endgültiger Sicherheit wissen daß andere Menschen träumen. So wie man nicht wissen kann ob andere Menschen Bewußtsein besitzen oder ob man selbst das einzige bewußte Wesen ist.

Das wirft gleich mehrere grundsätzliche Fragen auf. Die erste ist eine eher philosophische, und sie läuft unter den Stichworten Skeptizismus und vor allem Solipsismus. Gegen ihn gibt es einige schwerwiegende Einwände, die ich Dir nicht erläutern muß, da Du sie ja alle schon kennst (denn ich bin ja vermutlich gar keine Person mit eigenem Bewußtsein, sondern lediglich Deine gedankliche Projektion einer Person). ;-)

Die zweite Frage berührt das Gebiet der Epistemologie: Angenommen, es gibt tatsächlich mehr bewußte Wesen als nur Dich: Was wollen wir als eine Erkenntnis anerkennen, und unter welchen Voraussetzungen kommt eine Erkenntnis zustande? Auch der Begriff der Wahrheit gehört dazu. Hier gibt es wenigstens verschiedene Wahrheitstheorien wie die Kohärenz-, Evidenz- und Diskurstheorie.

Nehmen wir einmal an, daß andere Menschen gleiche Schilderungen über Bewußtsein und Träume haben, und auch gleiche Handlungen vollziehen und auf gleiche Situationen gleich reagieren wie Du.

Was kann man daraus ableiten? Sind andere Menschen, da sie kein Bewußtsein besitzen, lediglich gute Beobachter und bloße Nachahmer Deiner Handlungen und Reaktionen? Auch diejenigen, die sich genau wie Du verhalten, obwohl sie Dich - der Du ja der einzige mit einem Bewußtsein bist - niemals im Leben getroffen haben?

Nehmen wir nun im Gegenteil an, Dein Bewußtsein wäre nicht das einzige, und viele andere Menschen hätten herausgefunden, daß jeder Mensch aus biologischer und anthropologischer Sicht gleich aufgebaut ist. Welche Schlüsse können wir daraus ziehen?

Der Gedanke mag einem lächerlich vorkommen, aber speziell bei vielen Tieren (z.B. Regenwurm) ist es überhaupt nicht klar ob Bewußtsein vorhanden ist. Auch bei menschlichen Embryos existiert ein Streit darüber, insbesondere wenn es um Abtreibungen geht.

Man hat festgestellt, daß es Tiere gibt, die ein Selbstbewußtsein besitzen, sich also ihrer selbst bewußt sind. Malt man ihnen irgendwo einen Klecks auf den Körper und stellt sie vor einen Spiegel, deuten sie nicht auf das Bild im Spiegel, sondern untersuchen sich selbst. Ich kenne keine Begründung und keinen Beleg dafür, daß ein Selbstbewußtsein ohne das Vorhandensein eines Bewußtseins möglich ist.

Fakt ist: Es ist kein strenger wissenschaftlicher Beweis von Bewußtsein möglich und wir schließen einfach nur von uns auf Andere. Für Träume gilt das dann natürlich automatisch ebenso.

Ich wäre vorsichtig mit einer Faktenbehauptung - vor allem im Kontext mit dem Thema der intellektuellen Bescheidenheit. Was sollte der Grund für diese Unmöglichkeiten sein? Bist Du fachlich so kompetent, daß Du Dir eine solche Absolutaussage leisten kannst?

Das ist nicht so dramatisch schlimm und natürlich handle auch Ich so als hätten andere Menschen Bewußtsein.
Aber man sollte doch soviel "intellektuelle Demut" aufbringen zuzugeben daß man das letztendlich nicht weiß. Ehrlich gesagt....ich finde das macht das Leben sehr viel interessanter.

Was Du da gerade geäußert hast, ist eine Wissensbehauptung - ich hoffe, das ist Dir bewußt. Und auch, daß Du damit gegen jegliches Vorhandensein von Wissen plädierst (siehe auch weiter unten).

Ich habe leider vergessen wo ich folgenden Spruch mal gelesen habe: "Die Feststellung 'Ich weiß es nicht' ist der Anfang aller Wissenschaft."
Das sollte denke ich klar sein. Nur wenn einem erstmal klar ist daß man etwas nicht weiß, kann man anfangen nach einer Antwort zu suchen.

Und es geht noch weiter. Man "weiß" ja nichteinmal was "Wissen" eigentlich genau ist. Ein ganzer Zweig der Philosophie beschäftigt sich mit diesem Problem - die Erkenntnistheorie. Auch das sollte man sich eingestehen. Daß man nichteinmal wirklich weiß WANN und OB man etwas weiß.
Gute Einführung: "Erkenntnistheorie" von Peter Baummann, ISBN 3476025950

Wenn wir schon nicht wissen, "was Wissen eigentlich genau" ist, können wir uns dann wenigstens darauf einigen, daß wir über ein bestimmtes Maß an Wissen verfügen? Falls Deine Antwort "nein" ist, bedeutet das, daß alles, was wir als Wissen bezeichnen, Anschauung, Meinung ist. Wir reden dann einem Relativismus das Wort. Wir wissen nicht, daß alle Gegenstände auf der Erde nach unten fallen, sondern sind lediglich der Meinung. Man könnte auch anderer Meinung sein, nicht? Dann ist all das, was wir tun, bauen, herstellen, eitel Tun, denn es beruht ja nicht auf Wissen, sondern auf Ansichten.

Was hat man nun von "intellektueller Demut"?
Ich denke vor allem einen kritischen Blick auf Alles und Jeden.

Keineswegs auf alles und jeden, sondern auf eine einzige Person - auf sich selbst! Demut ist eine Eigenschaft, die von einem selbst ausgeht, ohne Seitenblick auf andere.

Ich WEISS definitiv NICHT ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht - bzw. wieviel davon.

Möglicherweise weißt Du es nicht, aber das erlaubt nicht den Schluß, daß es niemand weiß. Die Physik gibt darauf eine eindeutige Antwort.

Dafür habe ich von keiner der beiden Seiten genügend Informationen. Mag sein daß das auch an meinem "Verschulden" liegt. Ich habe mich nicht besonders darüber informiert. Aber dazu würde für mich gehören daß ich z.B. auch mal Primärquellen von Klimaforschern zumindest anlese. Hab ich aber bisher nicht wirklich Zeit für sowas. Also halte ich meinen Mund und äußere mich erstmal nicht dazu.
Ich verlasse mich jedenfalls weder auf Aussagen von Mainstream-Medien, noch auf Verschwörungs-Webseite XY. Was da rüber kommt ist für mich nämlich eben kein verlässliches Wissen.

Ähnliches gilt für den Brexit. Ich stehe der EU sehr skeptisch gegenüber, aber ob nun die Briten einfach doof sind und der Brexit eine fürchertliche Sache oder ob die böse EU die armen Briten knechten möchte - ehrlich gesagt: Keine Ahnung!
Ich habe nicht den Eindruck genug Informationen zu haben um das wirklich beurteilen zu können.
Und ich wundere mich wieviele Leute (auch hier auf TP) im Brustton der Überzeugung dazu ständig eine definitive Meinung äußern.

Hier handelt es sich wohl eher um Meinungen und um Auffassungen als um Wissen im erkenntnistheoretischen Kontext. Und Meinungen darf äußern, wer immer dazu Lust und Zeit hat.

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