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  • Ing12

4 Beiträge seit 02.05.2020

Das Fazit bitte nicht glauben

Auf welcher der beiden offensichtlich unversöhnlichen Seiten man auch stehen mag...Das Fazit des Artikels ist nicht korrekt, irreführend (und wenn Absicht würde ich es sogar manipulierend nennen).

Den Aspekt, ob der Lockdown selbst etwas gebracht hat oder ob das auch vorher bereits geänderte Verhalten der Menschen ausgereicht hätte, kann man diskutieren (tun wir ja auch). Der folgende Aspekt des Fazits ist aber wirklich nicht korrekt:
- es hätte in Wahrheit nie eine exponentielle Ausbreitung Corona-Infizierter gegeben
- der Anstieg der Corona-Positiven sei fast ausschließlich lediglich auf die Erhöhung der Testanzahl zurückzuführen

Warum ist dieser Teil des Fazits nicht korrekt? Wie viele Kommentatoren sehe ich als Hauptgrund diese Fehlannahmen des Autors:

Fehlannahme 1): Es sei sicher, dass mit der Testzahlerhöhung ja jetzt nur tägliche Neuinfizierungen gefunden werden, die es vorher auch schon gab, die man vorher aber einfach noch nicht finden konnte.

Nehmen wir das Beispiel des Autors, in dem anfänglich jeden Tag 10 neue Eier versteckt werden. Sagen wir die anfängliche Testanzahl findet 3 Eier von diesen 10 (die Dunkelziffer ist 7). Wenn man nun die Testanzahl erhöht, gibt es zwei mögliche Szenarien:

Szenario A)
Es gibt tatsächlich jeden Tag nur 10 neue Eier. Die kontinuierliche Erhöhung der Testanzahl führt nach und nach dazu, dass nun auch die restlichen 7 Eier gefunden werden.

Szenario B)
Es gibt tatsächlich jeden Tag mehr als die anfänglichen 10 Eier (sagen wir 20).
Die kontinuierliche Erhöhung der Testanzahl führt nach und nach dazu, dass nicht nur die restlichen 7 (wie bei Szenario A) sondern auch die zusätzlichen Eier (11.-20. Ei) gefunden werden.

Da man wegen der Dunkelziffer zu keinem der Test-Zeitpunkte diese tatsächliche Anzahl neuer Eier pro Tag kennt (10 oder 20 oder was auch immer), weiß man auch nicht, ob man sich in Szenario A oder B befindet.

Der Autor gibt nun an, dass in Deutschland ausschließlich Szenario A vorliegen kann und immer vorlag und begründet dies mit der zweiten Fehlannahme.

Fehlannahme 2): Eine tatsächliche Erhöhung der täglichen Neuinfizierungen würde man immer erkennen, wenn sich bei Verdopplung der Tests die täglich gefundenen Neuinfizierungen mehr als verdoppeln würden.

Dazu müsste also der folgende Quotient mit der Zeit größer werden: täglich gefundene Neuinfizierungen geteilt durch Anzahl tägliche Tests. Bei diesem Quotienten kommt es natürlich nicht nur auf die Anzahl der Tests an, sondern auch darauf wie viele Corona-positiv und wie viele Corona-negativ getestet werden.
Soll der Zähler und damit der Quotient wie oben erwähnt größer werden, muss der Anteil Corona-positiv Getesteter im Verhältnis zu den Corona-negativ Getesteten steigen.

Corona-positiv Getestete können hier sowohl die immer 10 täglich neuen Eier aus Szenario A als auch die erst 10 dann 20 täglich neuen Eier aus Szenario B sein. Nochmal: Da man ja zu keinem der Test-Zeitpunkte diese tatsächliche Anzahl neuer Eier pro Tag kennt.

Corona-negativ Getestete können jeweils sein (der Einfachheit halber hier mal ohne Gleichnis): Menschen mit gleichartigen Symptomen anderer Krankheiten (Erkältung, Grippe, Pollenallergie,…), zuvor Corona-positiv Getestete deren Verlauf abgeklärt werden soll oder die entlassen werden sollen, Krankenhaus-/ Pflegeheimpersonal, Menschen mit Kontakt zu Infizierten aber ohne Symptome,… Es ist deutlich geworden, dass entgegen der RKI Vorgabe tatsächlich auch viele Menschen ohne Symptome gestetet wurden.

Wie oben erwähnt kommt es entscheidend auf das Verhältnis Corona-positiv Getestete zu Corona-negativ Getestete an. Dieses Verhältnis ist sowohl für Szenario A als auch Szenario B variabel, je nachdem wer getestet wird. Der Quotient tägliche gefundene Neuinfizierungen geteilt durch Anzahl tägliche Tests kann also sowohl für Szenario A als auch Szenario B mit der Zeit größer oder aber auch kleiner werden. Wenn dieser Quotient größer wird, ist das kein Beweis für das Vorhandensein von Szenario B (wie vom Autor mittels der „relativ einfachen statistischen Methode“ behauptet).
Der Autor führt auch keinen Beweis an, warum in den gezeigten Beispielen für Italien und Deutschland zwingen Szenario A (Anzahl tatsächliche tägliche Neuinfektionen sei jeden Tag genauso hoch wie am ersten Tag) vorliegen muss. Es bleibt eine Vermutung. Es kann genauso gut sein, dass durch das Zurückrechnen auf die geringe Testanzahl vom ersten Tag, die tatsächlich exponentiell gestiegenen Neuinfektionen der nächsten Tage dann fälschlicherweise nicht erfasst sind.

Da ich auch versucht war, der Logik und Begründung des Artikels zunächst zu glauben, habe ich mir die Mühe gemacht, alle sachlichen Kommentare (pro und contra) zu lesen und die Zusammenhänge an kleinen Beispielen nachvollzogen. Ich möchte hier nicht sagen, dass in Deutschland tatsächlich Szenario A oder B vorlag bzw. vorliegt, aber die Behauptung des Autors, er könne dies anhand seiner Ausführungen beweisen, ist nicht korrekt.

Natürlich hat sich das Virus auch in Deutschland anfangs tatsächlich exponentiell verbreitet. Wie sonst sind solch hohe Infizierten-Zahlen nach anfangs vereinzelten Fällen (1 infizierte chinesische Trainerin beim Webasto, 1 infiziertes Pärchen im Kreis Heinsberg,…) zu erklären?

Die Überlegung, ob die aktuelle Eindämmung durch die getroffenen politischen Maßnahmen oder auch ohne diese von ganz allein passiert wäre, überlasse ich euch/Ihnen. Klar ist jedenfalls, dass die Erhöhung der Testzahlen allein keine hinreichende Begründung für die rasante Erhöhung der Corona-positiv Getesteten ist (wie vom Autor behauptet).

Noch ein Fehler (Manipulation?) ist mir wie auch anderen Kommentatoren aufgefallen: Unter „Problem bei den Todeszahlen“ wird behauptet, die Kurven der Neuinfektionen und der Todesfälle verliefen eigenartigerweise parallel und es wird eine Ursache für das Fehlen einer zeitlichen Verzögerung zwischen Neuinfektionen und Todesfällen spekuliert. Entgegen der Beschriftung der Grafik werden hier aber das STERBEdatum bei den Todesfällen und das MELDEdatum bei den Neuinfektionen gezeigt. Wenn man die Kurve der Neuinfektionen entsprechend zeitlich nach vorn zum potentiellen Infektionsdatum schiebt, ergibt sich die erwartete Verzögerung. Die Behauptung des Autors ist wirklich irreführend!

Zum Schluss noch ein Vorschlag, das Ostereier-Gleichnis realitätsnäher, verständlicher und vollständig zu machen:
- Eier -> alle tatsächlichen Corona Neuinfizierungen
- identifizierte Eier -> Corona-positiv Getestete (= gefundene Neuinfizierungen)
- Steine, die aussehen wie Eier -> gleiche Symptomen wie Covid19, jedoch nicht mit SARS-Cov-2 infiziert
- identifizierte Steine -> Corona-negativ Getestete
- Anzahl Kinder, denen man jeweils 1 Ei oder Stein gibt und die dieses/n dann identifizieren müssen -> Anzahl Tests

Viele Grüße, bleibt gesund, macht euch aber auch nicht zu viele Sorgen!

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