Beide Artikel sind sehr interessant und unterstreichen implizit, wie wichtig im Alltag klarere Definitionen wären. Was Deutschsein heute jenseits der Staatsangehörigkeit ausmachen könnte, darauf findet man im linken Spektrum leider keine Antwort, da meist bereits die Idee einer deutschen Ethnizität abgelehnt wird, wodurch für die deutsche Erinnerungskultur ausschließlich die Staatsbürgerschaft maßgeblich ist.
Für einen mittels Rassismusvorwurf geschickt gekonterten Antisemitismusvorwurf bietet der Fall des im ersten Artikel angeführten, nichtdeutschen Professors Achille Mbembe viel Anschauungsmaterial, übrigens auch in drei guten Artikeln der taz – Elbe, Ingo: »Die postkoloniale Schablone« (14.05.2020); Mbembe, Achille: »"Gigantische Diffamierungskampagne"« [im Original am 08.05.2020 auf Facebook: »Les conditions morales de la lutte contre l'antisémitisme«] (11.05.2020); Mendel, Meron: »Leerstelle Antisemitismus« (25.04.2020) –, doch autochthonen Deutschen fehlte solch eine Verteidigungsoption.
Letztlich bleibt nur, sich mit dem unbefriedigend gefassten Konzept Antisemitismus zu beschäftigen.
IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus vom 26.05.2016 der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (International Holocaust Remembrance Alliance, IHRA):
»Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« [erläutert anhand von 11 Beispielen]
»Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« (Jerusalem Declaration on Antisemitism, JDA) vom 26.03.2021 einer Gruppe von Menschen aus der internationalen Wissenschaft mit Schwerpunkten in der Antisemitismusforschung und verwandten Bereichen:
»Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).« [erläutert anhand von 15 Punkten]
Meine vorläufige Idee als Laie (angelehnt an die bekannte Rassismus-Definition von Albert Memmi):
»Antisemitismus ist eine (rassistische) Einstellung, die eine pauschale sowie endgültige moralische Abwertung jüdischer oder als jüdisch wahrgenommener Menschen kennzeichnet und so eine selbst empfundene moralische Überlegenheit betont, die Aggression in Wort oder Tat rechtfertigen könnte.«
Der Vorteil dieses vorläufigen Vorschlags besteht darin, dass er eine Schnittmenge zwischen den zwei Konzepten Rassismus und Antisemitismus bejaht, also die jeweils verhaltensunabhängige Abwertung ganzer Gruppen von Menschen, die ein wahrgenommenes Gruppenmerkmal eint, etwa die Hautfarbe oder die jüdische Ethnizität, obwohl als Ausdruck der vermeintlichen kulturellen Minderwertigkeit ganz unterschiedliche Gründe angeführt werden können; beispielsweise mitunter gegenüber dunkelhäutigen Menschen als "Edlen Wilden" ein prinzipieller Mangel an Intellektualität trotz redlicher Gesinnung und gegenüber als jüdisch bewerteten Menschen ein prinzipieller Mangel an Moralität trotz hohen Intellekts.
Der sogenannte westliche, einheimische Antisemitismus wurzelt zweifellos in dem über Jahrhunderte christlich geprägten Antijudaismus, der dem Judentum dessen Fortexistenz nach dem Kreuzestod des Jesus von Nazaret zum Vorwurf machte, also sehr prinzipiell eine jüdische Verstocktheit und fehlende Einsicht angesichts der vermeintlich historischen Tatsache monierte, dass der Messias doch bereits auf Erden gewirkt habe und so die Erlösung der Menschheit von allem Übel zum Greifen nahe schien, was leider ein tragisches Fehlurteil verhindert habe. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung erschien vielen Christen das Judentum (besonders als Kulturgemeinschaft) als mindestens ewiggestrig oder gar als strukturell bösartig, also im Vergleich zum Christentum als moralisch minderwertig. Dieses uralte Motiv wirkte später in rassenbiologischen Antisemitismen fort und fehlt bisher in offiziellen Definitionen.
Es ist klar, dass sich solch ein Antisemitismus als individuelle Einstellung (also prinzipielle moralische Abwertung aller jüdischen Menschen) auch indirekt darüber manifestieren könnte, dass dem jüdischen Staat Israel strukturelles moralisches Fehlverhalten unterstellt oder die politische Weltanschauung des Zionismus insgesamt als Kolonialimperialismus moralisch verurteilt wird. Dennoch könnten die solchen politischen Vorwürfen zugrunde liegenden individuellen Motive ebenso völlig anders gelagert sein. Wer wollte dies wie genau abschließend beurteilen? Allerdings stellt sich zugleich die prinzipielle Frage, ob deutsche Staatsbürger vor dem Hintergrund der Erinnerungskultur überhaupt zur Israelkritik berechtigt wirken, denn sie könnten nach der Drei-Elemente-Lehre womöglich als Teil des Volkerrechtssubjekts Deutschland betrachtet werden, also als Teil eines Täters, der plötzlich seinem Opfer Vorwürfe macht.
Unklar ist, ob aus einer Nationalität (oder etwa Hautfarbe, Geschlecht) moralische Pflichten resultieren.