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  • Pippin der Mittelmäßige

113 Beiträge seit 18.08.2023

Einseitigkeit

Mich nervt ein wenig die Einseitigkeit der Artikel zu diesem Thema. So schlimm die Aktionen Israels für die Bewohner des Gazastreifens sind, wäre es wünschenswert, ihnen zumindest ein wenig Kontext zu geben, damit sie nicht immer und immer wieder das Narrativ der Radikalen in den Autonomiegebieten wiedergibt:

1. Israel hat die Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen mit Lebensmitteln, Treibstoff, Strom und Wasser eingestellt, weil es im Regelfall eben Israel ist, das die Bevölkerung des Gazastreifens versorgt. Die Regierungen des Gazastreifens hatten seit 2005 und insbesondere die Hamas seit 2007 die Möglichkeit eine Annäherung an Israel zu betreiben und damit die Bedingungen für die Zivilbevölkerung zu verbessern (insb. Einfuhrbedingungen und Infrastruktur). Stattdessen bürden sie der UN, der internationalen Gemeinschaft und insbesondere Israel in einem weiteren Fall von menschlichem Schutzschild die Versorgung der Bewohner des Gazastreifens mit dem Lebensnotwendigen auf. Es ist auch nicht richtig, wie an solchen Stellen immer wieder aufgeführt wird, dass Israel eine vollständige Blockade des Gazastreifens betreibt. Vielmehr ist es so, dass sämtliche Güter, die in den Gazastreifen gehen sollen, über israelische Häfen abgewickelt werden müssen, um zu verhindern, dass sich die Hamas mit Kriegsmaterial eindeckt. Es gibt keinen erkennbaren Grund, warum der Gazastreifen am Wasser- und Stromnetz von Israel hängen muss. 16 Jahre sind genug Zeit um eigene Infrastruktur aufzubauen, eigene Lebensmittelindustrien aufzubauen, etc. Es ist mir unklar, warum Israel die Zivilbevölkerung des Gazastreifens versorgen sollen muss, während die vermeintliche Regierung alle Ressourcen in einen kollektiven Selbstmordanschlag investiert. Daraus einen Vorwurf an Israel zu konstruieren, finde ich ehrlich gesagt unfair.

2. Es ist auch eine verzerrende Darstellung, israelische und palästinensische Opferzahlen immer wieder nebeneinanderzustellen. Das vermittelt den Eindruck, dass Israel genauso grausam - oder gar noch grausamer - agiert, wie es die Hamas getan hat. Würde die Hamas ihre Raketenwerfer, ihre Tunneleingänge, ihre Munitionsdepots oder ihre sonstige militärische Infrastruktur fernab von Wohngebieten, Krankenhäusern und Schulen installieren, wären die palästinensischen Opferzahlen ein Bruchteil dessen, was sie derzeit sind. Die hohen palästinensischen Opferzahlen liegen vielmehr daran, dass die Hamas vorsätzlich ihre militärische Infrastruktur in besonders vulnerablen Gebieten unterbringt, um Israel dazu zu zwingen, Wohngebiete, Krankenhäuser oder Schulen zu bombardieren, weil sie damit entweder einen Angriff auf ihre Infrastruktur verhindert oder am nächsten Tag westliche Medien empört über die Angriffe Israels auf Wohngebiete berichtet. Hinzu kommt auch die regelmäßige Auslassung, dass das israelische Militär - als einziges Militär der Welt - die Bewohner einer Gegend vorwarnt, die sie bombardiert. Mehr noch: Menschen, die trotz dieser Warnungen auf Dächern verbleiben, werden durch "Roofknocking", die vorherige Bombardierung mit Dummy-Geschossen, vertrieben, um Menschenleben zu schützen. Sich nun darüber zu empören, dass Israel die Bevölkerung Gaza-Stadts vor einem anstehenden militärischen Angriff warnt, ist auch schräg. Das einzig noch zivilisiertere wäre es, die Angriffe der Hamas einfach stillschweigend zu ertragen.

3. Die Komplizenschaft der UN wird höflich ignoriert. Einerseits haben palästinensische Flüchtlinge, die vor einem Krieg von 1948 geflohen sind und trotzdem immer noch in Flüchtlingscamps in Jordanien, Gaza, Syrien, etc. sitzen, eine eigene UN Behörde (UNRWA) und fallen nicht in den Arbeitsbereich des "normalen" UN-Flüchtlingswerks (UNHCR). Damit soll aktiv die Integration von Flüchtlingen in eine Umgebung verhindert werden, was geradezu perfide ist, wenn das Flüchtlingscamp sogar in den palästinensischen Autonomiegebieten liegt - wie es in Gaza mehrere gibt. Andererseits toleriert die UN im Gaza-Streifen die Nutzung ihrer Schulen als Standorte für Raketenwerfer, kritisiert Beschuss durch Israel und gibt Monate später dann kleinlaut zu, dass die Hamas ihre Schulen tatsächlich als Lager- und Abschussort nutzt (http://blog.unwatch.org/wp-content/uploads/Board-of-Inquiry-UNRWA-weapons-in-schools-extract-.pdf). Zudem greifen die UNRWA Schulen nach wie vor auf die von der palästinensischen Autonomiebehörde herausgegebenen und zutiefst antiisraelischen Schulmaterialien zurück. Die UN und insbesondere die UNRWA ist in diesem Konflikt kein neutraler Akteur. Die Liste der antiisraelischen Resolutionen der UN muss man in diesem Rahmen eigentlich nicht noch zusätzlich erwähnen.

4. Das Schweigen der Anrainer wird auch wohlwollend übergangen. Wenn man es ganz genau nimmt, ist der Gaza-Streifen völkerrechtlich Teil Ägyptens und das Westjordanland Teil Jordaniens. Beide Staaten haben bisher jede Offerte Israels die Gebiete zurückzuerhalten abgelehnt, wohlwissend dass sie sich damit das Sicherheits- und Versorgungsproblem einhandeln würden, das derzeit Israel an der Backe hat. (Mehr noch: Der jordanische König hat seinerzeit die Fatah ja aus Jordanien vertrieben, sodass die Kontrolle des Westjordanlands durch Israel eine stabilisierende Wirkung auf die Verhältnisse in Jordanien hat).

5. Die immer wieder durchscheinende Gleichsetzung der Palästinenser mit ihrer Führung erzeugt ein falsches Bild. Die Hamas ist im Gaza-Streifen durch einen brutalen Bürgerkrieg an die Macht gekommen. Die Führung der Hamas sitzt derzeit nach aktuellem Kenntnisstand in Qatar und "leidet unter der Besatzung" ungefähr so viel wie die WM unter israelischer Besatzung gelitten hat. Die Aktionen der Hamas in irgendeiner Weise mit dem Leid der Bevölkerung des Gazastreifens zu "erklären", stellt die Sachverhalte auf den Kopf. Nicht nur liefert es eine implizite Rechtfertigung der Handlungen einer nach eigenem Selbstverständnis klerikal-konservativen und antisemitischen Organisation, sondern verkennt, dass die prekäre Situation in Gaza vor allem aufgrund des Lebens unter der Hamas-Herrschaft besteht. Niemand hat die Hamas dazu gezwungen Gaza herunterzuwirtschaften, durch kontinuierliche Angriffe auf Israel die Sanktionen zu verursachen oder eine autokratische Semitheokratie durchzusetzen. Die Aktionen der Hamas haben mit dem Leid der Palästinenser nur insofern zu tun, als dass die Armut in Gaza eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die Hamas ihr eigentliches Programm durchziehen kann und sie daher ein stetes Interesse daran hat - und insbesondere die Führung in Qatar, an den prekären Verhältnissen im Gazastreifen möglichst nichts zu ändern, bzw. es noch zu verschärfen.

6. Überhaupt wiederkehrend von israelischer Besatzung zu sprechen ist nicht richtig. Im Gazastreifen gibt es seit 2005 keine dauerhafte israelische Militärpräsenz. Im Westjordanland gibt es die Unterteilung in unterschiedliche Zonen, wobei das israelische Militär nur im kleineren Teil des Gebiets operiert. Eine Besatzung ist normalerweise, dass tatsächlich die gesamte Herrschaft über ein Gebiet und dessen Institutionen durch eine fremde Macht ausgeübt wird. Das ist in den palästinensischen Autonomiegebieten nicht der Fall. Man kann selbstverständlich die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland - mit der zugehörigen Militärpräsenz - kritisieren: Das ist aber ein völlig anderer Themenkomplex, der mit einer Besatzung im herkömmlichen Sinn nichts zu tun hat. Was ja im Regelfall mit der israelischen Besatzung eigentlich gemeint wird, ist die israelische Präsenz in dem Teil westlich des Jordans, in dem Tel Aviv liegt. Die sprachliche Figur der israelischen Besatzung ist dog whistle der Radikalen für die Delegitimierung des israelischen Staates als Ganzem. Wer unreflektiert von Besatzung spricht, übernimmt damit die Denkfiguren, die Israel als Ganzes von der Landkarte tilgen möchten.

7. Die merkwürdige Übernahme des ethnisierenden Fokus stört mich. Auch wenn die (nicht mehr ganz) derzeitige israelische Regierung daran zündelt, ist Israel ein multiethnischer Staat. Unter den israelischen Opfern sind mit ziemlicher Sicherheit auch israelische Araber, Drusen, Beduinen oder Assyrer. Der Konflikt wird implizit oder explizit immer wieder als ein ethnischer Konflikt dargestellt. Das stimmt aber einfach nicht. Es ist ein Konflikt zwischen einer Organisation, der Hamas, und den Bürgern eines Staates, Israel. Der "normale Palästinenser" wird überhaupt nur in diesen Konflikt hineingezogen, weil er das Pech hat, in einem von der Hamas dominierten Gebiet zu leben, und selbstständig bisher nichts daran geändert hat.

Man könnte das noch mit etlichen weiteren Punkten fortsetzen. In jedem Fall gibt es selbst in dieser Situation wieder in den westlichen Medien einen merkwürdigen antiisraelischen Einschlag, den ich nicht verstehe. Ich fände es wünschenswert, wenn mehr kontextualisiert werden würde. Insbesondere auch, weil die vorauseilende Entschuldigung und Rechtfertigung für die palästinensische Führung, sowohl Hamas wie auch Fatah, wesentlich zum Leiden der Palästinenser beiträgt. Man muss Netanjahu oder die israelische Siedlungspolitik nicht mögen, kann mit Israel sehr kritisch umgehen und vollkommen parteiisch zugunsten der Palästinenser sein. Aber man sollte sich zumindest darum bemühen, ein genaueres Bild der Sachlage darzustellen, denn am Ende geht es nicht um Volksgruppen, Religionen, politische Anschauungen oder dergleichen, sondern um das Wohlergehen von Menschen und was dem im Weg steht.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (13.10.2023 20:32).

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