Es stimmt zwar, dass keiner der in der ukrainischen Verfassung genannten Gründe für ein vorzeitiges Ende der Präsidentschaft (Rücktritt, gesundheitliche Gründe, Amtsenthebung, Tod) erfüllt war. Der Fall, dass der Präsident sein Amt durch Flucht ins Ausland objektiv nicht mehr ausüben kann, ist in der Verfassung nicht geregelt.
Eine Verfassung kann niemals alle denkbaren Fälle regeln. Dann sind die noch funktionierenden Institutionen angehalten und berechtigt, die Lücken durch eine sinngemäße Auslegung der Verfassung zu schließen. Das Parlament hat entschieden, die Flucht Janukowitschs als Amtsverzicht zu werten, auch wenn dafür formal die Verlesung eines Rücktrittsgesuchs vor dem Parlament notwendig gewesen wäre. Das Parlament als einzige noch funktionsfähige, demokratisch legitimierte Institution hat hier die Verfassung ausgelegt und die Handlungsunfähigkeit des Staates verhindert. Ich bezweifle, dass ein funktionsfähiges, demokratisch gewähltes Parlament überhaupt Träger eines Putsches sein kann. Dem Parlament fehlen die Machtinstrumente dafür, die hat nur die Regierung. Jede demokratische Verfassung enthält Vorkehrungen, die Übergriffe der Exekutive (Regierung) gegen die Legislative (Parlament) verhindern sollen, der umgekehrte Fall ist eine Absurdität.
Spätestens durch die Neuwahlen drei Monate später, zu der auch die Janukowitsch-Partei (ohne Janukowitsch) wieder zugelassen war, wurde der vom Parlament gewählte Übergangspräsident Turtschinow (in einer parlamentarischen Demokratie wie Deutschland wird der Regierungschef ohnehin vom Parlament gewählt) wieder durch einen vom Volk gewählten (Poroschenko) ersetzt. Die OSZE hatte mehr als 10.000 Wahlbeobachter geschickt und bewertete die Wahl als "weitgehend demokratisch". Das Ergebnis war eindeutig: Poroschenko gewann bis auf einen alle Wahlkreise und mit 54% der Stimmen die absolute Mehrheit.
Die Ukraine hatte sich aus einer extrem instabilen, vorrevolutionären Lage gerettet und inmitten eines Krieges im Osten einen weitgehend demokratischen und friedlichen Machtwechsel hinbekommen. Moskau hatte sein Ziel, durch die gewaltsame Niederschlagung der Maidan-Proteste Janukowitsch sein Amt und Russland seinen Einfluss auf die ukrainische Innenpolitik zu retten, nicht erreicht. Schon bald musste Russland direkt militärisch eingreifen, um die Zerschlagung der moskautreuen Milizen im Osten zu verhindern.
Nebenbei: es ist schon ziemlich doppelzüngig hier den Verstoß gegen die Verfassung zu beklagen, den weitaus krasseren Verstoß durch den von Russland gesteuerten Putsch auf der Krim und im Donbass aber nicht. Die regionalen Institutionen waren nicht befugt, so etwas zu beschließen. Zumal z.B. das Regionalparlament auf der Krim unter der Kontrolle von bewaffneten, russischen "grünen Männchen" tagte und damit gar nicht mehr handlungsfähig war, weil nur noch "russlandfreundliche" Abgeordnete in den Plenarsaal gelassen wurden. Wer sich an solchen Methoden nicht stört, der sollte zu dem vergleichsweise harmlosen "Verstoß" durch die Werchowna Rada lieber schweigen. In keinem der von Russland kontrollierten Gebiete hat es bisher eine von der OSZE anerkannte Wahl gegeben.