Wer da nicht erschöpft ist
Na ja, die Eupraxie der modernen westlichen Gesellschaften besteht wohl darin, immer mehr und besseren Stress - sich gegenseitig - zu verursachen. Wer dazugehören will, erzeugt Stress oder empfängt Stress.
Sloterdijk hat das vor Jahren einmal "humoristisch" zu formulieren versucht:
https://www.suhrkamp.de/buch/peter-sloterdijk-stress-und-freiheit-t-9783518062074
[ ... ] Dies können nach Lage der Dinge nur freiheitsdämpfende und streßsichernde Maßnahmen sein. Wir verstehen, warum das Drama nur in dieser Folge ablaufen kann. Wenn das primäre Subjekt der neuen Freiheit das vom Sozialstreß entbundene, mittelpunktlos in sich dahindriftende, von allen Meinungen emanzipierte, bis in die Tiefe seiner selbst sorglose rêverie-Subjekt ist, liegt auf der Hand, wieso die massenhafte Freisetzung von Subjektivität dieser Art auf eine Katastrophe des Sozialen hinauslaufen könnte. Sie bedroht die soziale Synthesis mit der individualistischen Kettenreaktion, an deren Ende die Massenflucht der sorglosen einzelnen aus dem Belastungskollektiv stünde. Diese würde die soziogenen Streßfelder zersetzen, die, wie gezeigt, den Zusammenhang zwischen den Gesellschaftern ausmachen. Tatsächlich ist der psychopolitische Großkörper, den wir Gesellschaft nennen, nichts anderes als eine von medial induzierten Streß-Themen in Schwingung versetzte Sorgengemeinschaft.
und
Ich möchte an dieser Stelle auf meine Bemerkungen über das fehlende Staunen in den Sozialwissenschaften zurückkommen. Es müßte im Gang der Überlegungen deutlich geworden sein, warum in Wahrheit nichts erstaunlicher ist als das reale Vorkommen von individualistischen Massengesellschaften des okzidentalen Typs, wie wir sie heute vor Augen haben. Sie sind erstaunlich, weil sie inzwischen unzählige Individuen mit Subjektivitätserfahrung beherbergen – fast könnte man sagen: mit Auflösungserfahrung, mit Asozialitätserfahrung, mit der Erfahrung von glücklicher Unbrauchbarkeit.