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  • Wolliku

248 Beiträge seit 27.05.2022

Vielfalt - ein schwieriges Thema

Grundsätzlich sind Naturschutzthemen - wie hier teilweise mit vielen Sachverhalten, aber auch mit emotionalen Momenten berechtigt angereichert - für mich als Ökologe lesenswert und vielen Argumenten kann man gut folgen. Der Vielfalt-Begriff, oft auch Diversität genannt, hat jedoch eine vielschichtige Problematik gerade für Ökologie und Naturschutz. Würde es nur um (anscheinend) natürliche Ökosysteme gehen, würde Jeder sagen: Mensch, Finger weg von der Natur. Besser ist das. Wir wissen alle, das klappt so nicht, beispielsweise in den tropischen Regenwäldern, weil die monetäre Basis für Handlungen der dortigen Gesellschaften nicht durch Außenstehende festgelegt werden kann. Konkreter Naturschutz fängt folglich besser an der eigenen Haustür an. Welche Vielfalt gilt es zu schützen? Sind es die Arten, die wir oft in Gänze noch gar nicht kennen, sind es Lebensräume, Biotope, die wir auch noch einer Bewertung nach dem Begriff der "Natürlichkeit" unterziehen müssen? Dann fallen Begriffe wie alpha-, beta-, gamma-Diversität und es wird kompliziert. Faktisch können wir bei uns in Mitteleuropa nur Kulturlandschaft auf 100 % der Fläche schützen, mit unterschiedlich naturnahen Kompartimenten und/oder (annähernd) natürlichen Prozessen, wie in den FFH-Richtlinie festgelegt. Flora-Fauna-Habitatrichtlinien widmen sich aus verständlichen Gründen besonders den seltenen und gefährdeten Arten. Viele Arten könnten aber ohne menschliche Nutzungen und Pflege der Lebensräume nicht fortbestehen. Aus diesem Grunde müssen oft archaische Nutzungen fortgeführt werden, ohne jegliche wirtschaftliche Effizienz, dem Steuerzahler sei gedankt. Andererseits schaffen wir, auch in unseren Stadtlandschaften, viele neuartige Lebensräume und stellen fest, dass sie auch für Arten attraktiv werden, die oft aus ganz anderen Ecken der Welt zu uns verschleppt wurden und werden. Neozoen und Neophyten zeigen uns täglich, dass mitunter die urbanen Stadtlandschaften die größte Vielfalt pro Flächeneinheit an Arten aufweisen. Viele Neubürger sind zudem attraktiv, wie Halsbandsittiche oder das Schmalblättrige Greiskraut, das aus Südafrika kommend ihren Blührythmus erhalten hat und uns im Spätherbst und Winter blühend erfreut. Nicht einmal abwegig wäre es, wenn der Wolf als großer Prädator den Wildschweinen in die Stadt folgt, wenn wir dies zulassen, ähnlich den Leoparden, die in der Millionenstadt Mumbai leben. Faktisch müssen wir einräumen, erdgeschichtlich ist das Zeitalter von Homo sapiens das artenreichste Zeitalter überhaupt. Die naheliegende Annahme, dass wir mehr Arten zeitgleich ausrotten als durch Verfrachten von Arten und Genen rund um den Globus an Stellen neu entstehen, lässt sich wissenschaftlich nicht absichern. Deshalb steht für mich die Vulnerabilität von großflächigen naturnahen Lebensräumen bei den Bewertungen für den Naturschutz ganz oben an. Und da müssen wir uns streng nach den Anforderungen der Schlüsselarten und der Einzigartigkeit des Ökosystems ausrichten, z.B. Sibirischer Tiger, Berggorilla, Schneeleopard, Galapagos-Inseln. Diese Priorisierung wird uns nicht erspart bleiben, bevor wir Unsummen für den Schutz einzelner Populationen in Landschaftsräumen aufwenden, obwohl sie woanders ungefährdet weiter leben können. Leider hat sich der Naturschutz gerade durch emotionale Dramatisierungen in einer abzuwägenden Vielfalt oft auch unglaubwürdig oder angreifbar gemacht.

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